Ein Dietrich-Kittner-Gedenkbuch
Aus dem Leben eines Glaubenichts
Unser Freund und Genosse Dietrich Kittner ist am 15. Februar 2013 verstorben. Um an ihn zu erinnern, empfehlen wir das letzte Buch, das er zwar noch mit vorbereitet hat, aber nicht mehr fertigstellen konnte. Es hat 256 Seiten einschließlich vieler Fotos sowie einer Bibliographie und einer Diskographie seiner jahrzehntelangen Kabarett-Arbeit und ist 2014 im Verlag „edition logischer garten“ in Hannover erschienen.
Wir veröffentlichen aus dem Gedenkbuch den letzten Artikel Dietrich Kittners aus der „Weltbühne“-Nachfolgezeitschrift „Ossietzky“.
Lest deutsche Krimis!
Soll man Krimis besprechen? Ich meine: Ja. Sie können, wenn sie gut gemacht sind, den Zeitgeist widerspiegeln, siehe Dashiell Hammett und Raymond Chandler. Aber deutsche Krimis, gibt’s die?
Die frühesten deutschen Politthriller kannte einst fast jeder Gymnasiast, kaum einer aber hatte sie wohl bewußt als solche gelesen: Schillers „Räuber“, seinen „Verbrecher aus verlorener Ehre“ oder Kleists „Michael Kohlhaas“. Wie sollte man auch? Schließlich gehörte das zur Sparte Klassik.
Vor Jahren habe ich in der Zeitschrift „Ossietzky“ unter dem Titel „Brunetti in Leuna“ einen langen Artikel veröffentlicht. Darin hatte ich ein Krimiszenario um die damaligen großen Politskandale (CDU-Spenden, Leuna-Bestechungen, Treuhand, Kohl, Schreiber, Pfahls ...) entwickelt und im Schlußsatz bedauert, daß es keinen deutschen Kriminalautor gäbe, der sich hiesiger Staatsverbrechen annähme. Beispielsweise der geheimen Nato-Terrortruppe „Gladio“, die aus Altnazis zusammengesetzt im Auftrag des BND und der CIA, vom Massenmörder Klaus Barbie trainiert, in der BRD unter dem Namen „Stay behind“ operierte und im Frühjahr 1989 ein Thema erster Zeitungsseiten und sogar des Bundestages hergab, bis dann das Siegesgeschrei der „Wende“ alles zudeckte.
Inzwischen ist mein damaliger Wunsch in Erfüllung gegangen. In bereits sechs Bänden schildert der Stuttgarter Autor Wolfgang Schorlau die gefährlichen Ermittlungen seiner Kunstfigur, eines aus Ekel über den BKA-Betrieb dort abgesprungenen Zielfahnders namens Georg Dengler, der auf eigene Faust als Privatdetektiv weitermacht und dabei immer wieder auf hoch staatspolitische Fälle oder Wirtschaftskriminalität vom Brutalsten stößt. Schorlau nutzt souverän alle Ingredenzien des klassischen Krimis: Hochspannung, glänzend beobachtetes Lokalkolorit, überraschende Lösungen und psychologisch glaubwürdig gezeichnete Figuren, stellt dabei viele hochgeschätzte angelsächsische oder italienische Autoren in den Schatten. Allenfalls wären seine Romane vergleichbar mit denen von Eric Ambler, Andrea Camilleri oder Petros Markaris mit seinem Athener Kommissar Charitos in der griechischen Finanzkrise. Man fiebert Nächte hindurch mit Schorlau. Krimikost wie sie sein soll. Vor allem aber – und das zeichnet Schorlaus Thriller besonders aus – hält er sich eng an historische Fakten, nennt wenn es sein muß, politische Adressen auch im Klartext. Die Themen der einzelnen Bände sind tagesaktuell: Zugriffe der Konzerne auf die öffentliche Wasserversorgung („Fremde Wasser“), die Aufdeckung schwäbischer Provinzkriegsverbrechen („Das dunkle Schweigen“), die neu entwickelten US-Laserwaffen („Brennende Kälte“) oder der jüngste Band („Die letzte Flucht“), der akribisch die kriminellen Geschäfte der Pharmakonzerne auflistet. Auch zu „Stuttgart 21“ gibt es am Rande hieb- und stichfeste Fakten.
Wolfgang Schorlaus Bücher sind sauber recherchiert: Krimis und Aufklärung zugleich. Im umfangreichen Anhang sind Quellen, Zeitungsberichte und Geheimdienstpapiere dokumentiert. Ein gutes Geschenk also für Freunde, die bisher noch gewissen rechtsstaatlichen Illusionen anhingen. Aber auch ausgebuffte „Ossietzky“-Leser werden hier noch manches Aha-Erlebnis haben, Fakten, die sie bisher eher unter Unglaubliches, Spekulationen oder Verschwörungstheorien abgelegt hatten. Als Einstieg in Schorlaus chronique criminelle wären wohl zwei Titel sinnvoll: Denglers erster Fall (jetzt schon in der 18. Auflage erschienen!) „Die blaue Liste“. Hier geht es um den Rohwedder-Mord und den (Selbst?-)Mord am RAF-Mitglied Grams seinerzeit auf dem Bahnhof von Bad Kleinen.
Wer jedoch brandaktuelle Einblicke in die derzeit vielbesprochenen Verstrickungen und die Handlungsweise des Verfassungsschutzes gewinnen will, der sollte mit Denglers fünftem Fall („Das München-Komplott“) beginnen. Alle, alle sind sie da: das Oktoberfest-Attentat, die „Wehrsportgruppe Hoffmann“, die Bayerische Staatsregierung, das Nazi-Netzwerk, der „Einzeltäter“ Gundolf Köhler, die Waffenlager in der Lüneburger Heide samt dem Forstangestellten Lemke, Gladio und die „leider zu früh verstorbenen Augenzeugen“ des Terroraktes. Für die jüngst halb aufgedeckte Nazi-Mordserie und ihre Hintergründe fast wörtlich zu nehmende Fingerzeige.
Für Leute mit Durchblick wie auch für Gutgläubige, die ihn noch gewinnen müssen: ein spannender und dabei höchst unterhaltsamer Pitaval der BRD. Es könnte alles so gewesen sein wie Schorlau schreibt. Ist es vielleicht sogar.
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