RotFuchs 188 – September 2013

Gysi und Modrow zum SED-Sonderparteitag
und dem Ende der DDR

Aus dem Nähkästchen geplaudert

Prof. Dr. Horst Schneider

Das Buch, das hier betrachtet werden soll, vermittelt der Öffentlichkeit ein Gespräch, das Verleger Frank Schumann mit Gregor Gysi und Hans Modrow am 13. Dezember 2012 im Bundestagsbüro des Fraktionsvorsitzenden der Partei Die Linke geführt hat. Es litt darunter, daß Gysi mehrmals unterbrochen wurde, weil er an parlamentarischen Abstimmungen teilnehmen mußte. Außerdem standen beide Gesprächspartner unter dem Druck kurz bevorstehender Auslandsreisen. Während Gysi in die USA wollte, folgte Modrow einer Einladung nach Kuba.

Das Buch ist vor allem seinerzeitigen SED-Mitgliedern zu empfehlen, welche das Geschehen während der sogenannten Wende 1989/90 besser durchschauen wollen. Die Ereignisse, an die sich der seinerzeitige DDR-Ministerpräsident und der damalige PDS-Vorsitzende erinnern, betreffen nicht zuletzt auch ihren eigenen Anteil daran. Manches war bisher so noch nicht bekannt.

Frank Schumann begründet sein Anliegen folgendermaßen: Eine „ehrliche Rückschau“ beuge „sowohl einem Realitätsverlust vor …, als auch der Illusion, man könne Politik ohne Geschichte machen“. Es sei egal, ob man das Ausblenden der Vergangenheit nun Zeitgeist oder Zwang zur Anpassung nenne, oder ob es sich um schlichte Unwissenheit handele. Ohne Wurzeln gebe es keine Standfestigkeit, das wüßten nicht nur Forstarbeiter. (S. 13)

Gysi und Modrow, zwei Politiker, die in der Schlußphase der DDR an die Spitze der SED/PDS und der Regierung katapultiert wurden, haben zweifellos den Verlauf der „Wiedervereinigung“ auf seiten der DDR mitgeprägt. Modrow galt in den Westmedien als „Hoffnungsträger“ der „Reformer“, während Gysi quasi über Nacht in die höchste Funktion der sich wandelnden Partei aufstieg. Die Politiker waren sich erstmals am 3. Dezember 1989 begegnet, als in Vorbereitung des SED-Sonderparteitags ein „Untersuchungsausschuß zur Überprüfung von Amtsmißbrauch und Korruption“ gebildet wurde.

Beide vermuten, daß es Markus Wolf gewesen sein dürfte, der dafür gesorgt habe, daß Gregor Gysi als Vorsitzender dieses Gremiums gewählt wurde. Durch wen eigentlich? Gysi merkt an, es sei vereinbart worden, die Namen der Mitglieder dieser Untersuchungskommission nicht bekanntzugeben. Daran habe man sich gehalten. Er glaubt, sich nicht mehr daran erinnern zu können, wer seine Mitstreiter bei der „Ausrottung der Korruption in der SED“ gewesen waren. Darf hier gefragt werden, warum diese Personen auch weiterhin anonym bleiben wollen? Um den großen Besen, der Gysi in die Hand gedrückt wurde, weiß dieser natürlich, nicht aber, wo sich das historische Gerät heute befindet. Der Besen sei spurlos verschwunden. „Seine Aufgabe hatte sich ja auch erledigt“, meint Gysi. (S. 26)

Darf also weiter gefragt werden: Welche Aufgabe hatte der Besen tatsächlich zu erfüllen? Und durch wen wurde sie gestellt? Hatte sich mit dem Ausschluß führender Funktionäre wie Erich Honecker, Egon Krenz und Heinz Keßler – also mit der politischen Enthauptung der SED – die Funktion dieses Instruments erledigt?

Auf dem SED-Sonderparteitag, der zum Gründungsparteitag der PDS mutierte, spielte der „Stalinismus“ bekanntlich eine besonders herausgehobene Rolle. Obwohl diesen Begriff bis jetzt noch niemand definiert hat, vollzog der Parteitag nach Gysis Worten „einen radikalen Bruch mit dem Stalinismus“. (S. 27) Der Fraktionsvorsitzende hält das auch heute noch für das Wichtigste dieses einschneidenden Ereignisses.

Ich möchte das Nachdenken befördern, indem ich frage: War der „Stalinismus“, wie immer er auch beschrieben oder ausgelegt werden mag, am Jahresende 1989 etwa die Hauptgefahr für die DDR? Stellten vermeintliche Stalinisten deren gefährlichste Feinde dar? Außerdem: Wer ist denn nicht alles seitdem als „Stalinist“ gebrandmarkt und kaltgestellt worden?

Genossen, die damals als Mitglieder oder Funktionäre der SED die DDR verteidigen halfen, dürften sich über einige Aussagen Gregor Gysis wundern. So auch darüber, wie damals um den Posten des Parteivorsitzenden gefeilscht wurde. Auseinandersetzungen gab es auch um die Frage, ob sich die SED selbst auflösen solle oder nicht. Gysi, der dagegen war, setzte sich mit dem Argument durch: „Das Parteivermögen wäre doch plötzlich herrenlos geworden.“ (S. 36) – Auch der Streit über den Verbleib des Parteivermögens ist für frühere SED-Mitglieder von besonderem Interesse, war es doch schließlich ihr kollektives Eigentum, über das da entschieden wurde. Es belief sich im Juni 1990 noch auf etwa eine Milliarde DDR-Mark und 20 bis 30 Millionen Valutamark. Im Zusammenhang mit einem „Finanzskandal“, welcher der PDS sehr schadete, wurde in einer 15stündigen Sitzung ihres Vorstands beschlossen, den Hauptteil des Vermögens „gemeinnützigen Zwecken zuzuführen“. Dieser „rigorose Schritt“ hatte zur Folge, daß die PDS über Nacht 95 % des ursprünglichen SED-Vermögens einbüßte.

Gysi erzählte eine Episode, die scheinbar auch seinen Gesprächspartnern nicht bekannt war. Dabei geht es um einen Druckfehler im Programm der PDS, das Anfang 1990 veröffentlicht wurde. Gysi schilderte, wie es zu diesem Mißverständnis kam: „Der Fehler stand im ND, was zu einem echten Problem führte. Unter der Programmzeile ‚Welche Wirtschaft wir wollen‘ hatten wir geschrieben, daß wir eine ,sozialistische Marktwirtschaft‘ einführen wollten. Das ging im wesentlichen auf Dieter Klein zurück. Offenbar konnten sich auch die Redakteure darunter nichts vorstellen, und so machten sie daraus ,soziale Marktwirtschaft‘. Uns fiel das beim Korrekturlesen nicht auf, und so beschlossen die Delegierten des Wahlparteitags, daß die PDS für eine ‚soziale Marktwirtschaft‘ streiten werde.“ (S. 65)

Laut Gysi wurde der Begriff „sozialistische Marktwirtschaft“ in den Text aufgenommen, obwohl nicht einmal die Autoren wußten, was eigentlich darunter zu verstehen sei. Hierzu gibt es zwei denkbare Interpretationen: Entweder wurden die Delegierten absichtlich getäuscht, oder es ist davon auszugehen, daß ein Programm kaum gelesen, geschweige denn befolgt wird.

Im Gespräch nimmt die Erinnerung an den „Weg zur Einheit“ einen wichtigen Platz ein, darunter Modrows Treffen mit Gorbatschow am 2. Februar 1990, nachdem der DDR-Regierungschef per Bildschirm die Formel „Deutschland, einig Vaterland“ verkündet hatte. Diese bereitete nicht nur Gysi Bauchschmerzen. Erst viel später habe er erfahren, daß die Würfel über das Schicksal der DDR in Moskau gefallen waren, sagte Gysi. Er fügte hinzu: „Bonn diktierte den Fahrplan.“ Wir Dresdener hatten das allerdings schon bei Kohls Rede in unserer Stadt am 19. Dezember 1989 festgestellt.

Gysi begründet das Ende der DDR damit, daß eine Bevölkerungsmehrheit ihren Staat nicht mehr ge-wollt habe. O-Ton Gysi: „Daß viele ihm (Helmut Kohl, H. S.) folgten, hatte sich die SED selbst zuzuschreiben.“ (S. 50)

Man könnte das auch anders formulieren: Am Untergang der DDR sei die SED schuld gewesen, weil sie die Unterstützung der Mehrheit der Bürger verloren habe. Der Leser wird hierzu eine Menge Fragen haben.

Modrow setzte Gysi entgegen: „Diese ganzen Prozesse müssen in eine wahrhafte Geschichtsauffassung einfließen. Man kann das nicht darauf reduzieren: In Leipzig haben sie den Honecker wegdemonstriert, am 9. November wurde aufgrund eines Versprechers die Mauer geöffnet, die DDR-Bürger wählten am 18. März 1990 die D-Mark, und am 3. Oktober brach dank der deutschen Einheit auch im Osten das Paradies aus.“ (S. 62) Modrows Sarkasmus ist berechtigt.

Im Gespräch berichten Gysi und Modrow über ihre unterschiedlichen „West-Erfahrungen“. Das mag teilweise an ihren voneinander abweichenden Biographien liegen. Modrow hatte schon als leitender FDJ-Funktionär Freunde wie Jupp Angenfort. Als er dann 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Dresden war, kreuzten sich seine Wege mit denen vieler Politiker aus der BRD.

1989 standen auch die Beziehungen der SED zur DKP auf dem Prüfstand. „Gregor wollte eigentlich niemanden aus dieser Partei“, urteilt Modrow. Vermutlich gelangten deshalb auch keine früheren DKP-Mitglieder als PDS-Abgeordnete in den Bundestag. Wäre es nicht nützlich, die Ursachen und Folgen dieses Sachverhalts genauer zu untersuchen? Wem dient denn der jetzige Stand der Dinge?

Der rote Faden des Gesprächs ist der Streit innerhalb der Linken um das Geschichtsbild zur DDR. Einer der Gipfelpunkte war die Stellung der PDS gegenüber der Eppelmann-Kommission und deren Arbeitsergebnissen. Die parteioffizielle Haltung mancher PDS-Funktionäre führte bekanntlich zu einer großen Austrittswelle. Modrow lehnt die verordnete Verteuflung der DDR ab: „Geschichte läuft nicht nach dem Muster eines Western, wo von vornherein klar entschieden ist: Der eine ist der Schuft, der andere der Gute.“ In diesem Kontext wandte sich Modrow an die Adresse verantwortlicher Politiker aus dem eigenen Lager: „Die Parteiführung hatte und hat kein Verhältnis zu ihren älteren Mitgliedern. Als Schwungmasse und Wahlvolk sind sie willkommen, sonst nicht. Sie drücken das Durchschnittsalter – auch die PDS möchte nicht als ‚alte‘ Partei erscheinen – und sterben überdies noch aus, womit die Zahl der Mitglieder schrumpft. Damit sinken die Beitragseinnahmen und die Zahl der Abonnenten des ,Neuen Deutschland’, dessen Hauptaktionär ja die Partei ist.“

Ich bin hier auch persönlich betroffen, möchte aber noch auf eine andere Textstelle aufmerksam machen. Bei Gysis „Geschichtsphilosophie“ über die „Diktatur“ sträuben sich einem Marxisten die Haare: „Es gibt viel Probleme in einer Diktatur. Ich lasse jetzt mal Demokratie-, Freiheits- und Menschenrechtsfragen unberücksichtigt Eine Sache steht darüber hinaus fest: Eine Diktatur ist zu Beginn ungeheuer kreativ. Da kommen neue unverbrauchte Leute an die Macht, die haben neue Ideen, welche sich rascher umsetzen lassen als bei langen demokratischen Entscheidungsprozessen. Dieser Aufbruch kann auch Zuspruch bei der Bevölkerung finden. Aber da es nie einen demokratischen Wechsel gibt, entsteht eine Stagnationsphase. Das kann man deutlich bei Breshnew sehen. Und auch bei Honecker. Was ich noch immer nicht verstehe: Warum Honecker annahm, sich erfolgreich gegen Moskau stellen zu können. Die sowjetische Parteiführung unter Gorbatschow beschließt, eine andere Politik zu machen, und unsere Führung sagt: Da machen wir nicht mit. Ja, was dachten sie denn, wer sie sind?“ (S. 75)

So viele Fehlurteile auf einen Schlag können aus Platzgründen hier nicht korrigiert werden. Doch der Leser darf wohl mal fragen: Wie wäre es, Gysis Äußerung über den „Beginn einer Diktatur“ am Beispiel der Machtauslieferung an Hitler zu überprüfen? Und kann man Honecker etwa deshalb einen Vorwurf machen, weil er sich dem antisozialistischen Kurs der letzten sowjetischen Führung widersetzt hat? War Gorbatschow etwa jemand, der keinen Widerspruch erfahren durfte?

In Gysis ideologischem Gemenge kommen die Begriffe Totalitarismus, totalitäre Diktatur, SED-Diktatur nicht vor, obwohl über sie in Bundestagsdokumenten, die zur Abstimmung standen, viel zu lesen ist. Der Neumann-Bericht über den „Stand der Aufarbeitung der SED-Diktatur“ beschäftigte das Parlament der BRD von Januar bis Juni 2013. Hier wäre eine klare Abgrenzung zu erwarten gewesen.

Schon 1962 habe ich den Geschichtslehrern der DDR die Totalitarismusdoktrin als „vergifteten Dolch“ vorgeführt, was damals noch höheren Ortes auf Unverständnis stieß. Nach 1990 entwickelte sie sich dann zur Hauptdoktrin der deutschen Antikommunisten bei der „Aufarbeitung“ der DDR-Geschichte.

Wer den Gegner nicht wahrnimmt oder unterschätzt, hat schon verloren. Diese These ist bisher durch nichts und niemanden widerlegt worden.

Gregor Gysi und Hans Modrow:

Gysi und Modrow im Streitgespräch
Ostdeutsch oder angepaßt

Edition Ost, Berlin 2013, 160 S.

9,99 €