Wie sich Wismarer Schüler in Lübeck
ihrer Haut zu wehren wußten
Bekennermut im November 1989
Nein, sie waren nicht „das Volk“, als das sich gewisse Losungen Skandierende empfanden. Es gab weit mehr Bürger der DDR, die nicht der D-Mark hinterherlaufen und ihre gesicherte Existenz aufs Spiel setzen wollten. Sie sehnten sich nicht danach, in einem einheitlichen Deutschland unter Hegemonie der kapitalistischen BRD zu leben und traten für eine echte Reformierung ihres sozialistischen Vaterlandes ein.
Im folgenden möchte ich über ein Ereignis berichten, das sich mir für immer eingeprägt hat. Am 18. November 1989, dem ersten Samstag, an dem auch für Schulen die Fünftagewoche galt, statteten meine Frau und ich der benachbarten Hansestadt Lübeck einen Besuch ab. Wir bummelten durch die Geschäftsstraßen. Lübeck gefiel uns. Es gab viele Möglichkeiten, die Stadt mit Wismar zu vergleichen. Ich hatte aber bald das Gedränge satt und kam auf den Gedanken, eine Schule aufzusuchen. Von Passanten erfuhr ich, daß die älteste Lübecker Lehranstalt das nahegelegene „Katharineum“ sei. Die Sekretärin meldete mich beim Direktor an. Dann begrüßte mich Oberstudiendirektor Dr. Bode. Nach kurzer Zeit gesellte sich auch sein Stellvertreter zu uns.
Ich unterbreitete Vorschläge für eine künftige Schulpartnerschaft, wobei mir unsere Beziehungen zu Schülern und Lehrern des Broniewski-Lyzeums im polnischen Koszalin vor Augen standen. Die Lübecker Kollegen nahmen meine Idee interessiert zur Kenntnis. Wir vereinbarten neue Treffen. Der Kontakt, um den es mir ging, war hergestellt.
In Wismar informierte ich die Schulleitung und das Kollegium. Wir erwarteten einen Gegenbesuch von Lübecker Lehrern und setzten auf eine ruhige, sachliche Atmosphäre. Doch eine Woche danach erschien ein Kollege Meyer, der sich als Vertreter der AG Jugendliteratur und Medien in der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) vorstellte. Er schlug mir vor, einem Schülergespräch in der NDR-Sendung „Studio 3“ zuzustimmen. Der Wismarer Schulrat erhielt zeitgleich aus Lübeck folgendes Telegramm: „bitte transport sonnabend fuer schueler eos geschwister scholl nach luebeck sicherstellen. dank und gruss dr. bode katharineum zu luebeck.“
Meine vorgesetzten Dienststellen erhoben keine Einwände. Herr Meyer wollte für den Transport ins Studio sorgen. Ernst Schwulow, unser an der Schule unterrichtender Fachberater für Staatsbürgerkunde, suchte in seinen 11. Klassen Teilnehmer zu gewinnen, deren Eltern einverstanden waren. Am 28. November erfolgte die Abfahrt der 17 Schüler. Es war schon dunkel, als wir in Lübeck ankamen. Dr. Bode erwartete uns am vereinbarten Treffpunkt. Im NDR-Produktionsatelier verteilte man die Jungen und Mädchen beider Schulen auf zwei Podeste. Eingeleitet wurde das Ganze durch den „Widerstandsbarden“ Wolf Biermann mit einem seiner berühmt-berüchtigten Machwerke. Nach schwachem Publikumsbeifall begann die Diskussion, in deren Verlauf immer offensichtlicher wurde, daß sich die Erwartungen der Initiatoren nicht erfüllten. Unsere Schüler stellten Unsachliches richtig, ließen keine Pauschalverurteilungen der DDR zu, antworteten klug und stimmten am Ende gegen eine schnelle Vereinigung beider deutscher Staaten.
Die „Lübecker Nachrichten“ zitierten die Antwort eines von ihnen: „Wir müssen erst aus eigener Kraft unsere Probleme lösen.“
Um aber die erwünschte Tendenz in die Sendung hineinzutragen, platzte urplötzlich der Telefonanruf eines Zuschauers ins Rede- und Antwortspiel. Ich wurde gefragt: „Warum haben Sie es zugelassen, daß Kinder von Eltern, die Ausreiseanträge gestellt hatten, nicht in die EOS aufgenommen wurden?“ Bis zum Sendeschluß hatte ich nur noch Zeit für einen einzigen Satz, mit dem ich nicht zufrieden war. Mein Lübecker Kollege, der das spürte, suchte vergebens, mich durch den Hinweis auf die generell rüde Art der westlichen Medien im Umgang mit Interviewten zu trösten.
Nach der Sendung stellten sich uns die „Macher“ vor: Es handelte sich um den „Tagesschau“-Moderator Hanns-Joachim Friedrichs und Sabine Christiansen.
In den nächsten Tagen las ich Briefe, welche uns aus Ost und West erreichten. Eine 81jährige Potsdamerin schrieb u. a.: „Ich möchte Euch auf diesem Wege für Euer Verhalten und Eure ehrliche Stellungnahme danken. Ich hatte den Eindruck, daß Ihr in einem guten Verhältnis zu Eurem Staatsbürgerkundelehrer und Eurem Direktor steht, die sich im Gespräch wohltuend zurückhielten.“
Im Brief eines Lüneburger Ehepaares hieß es: „Als ehemalige Schüler des Lübecker Katharineums haben wir uns über den gesamten Rahmen der Sendung gewundert und geärgert, insbesondere über das Verhalten der NDR-Redakteure und über die merkwürdige Zusammensetzung der Lübecker Schülergruppe. Auch angesichts des überdeutlich werdenden parteiergreifenden Stils der Redakteure haben uns Ihre mutigen Aussagen und Ihr selbstkritisches Suchen nach einem eigenen Weg sehr beeindruckt.“
Ein Berliner schrieb: „Eure Mannschaft zeigte Selbstbewußtsein als Ausdruck von Wissen und staatsbürgerlicher Reife, kritische Betrachtungsweise, Ungeduld gegenüber Hemmnissen, die uns auf dem Weg zum Wohle aller stören.“ Auch Zahnarzt Dr. Heinz Kleininger, Sohn jenes Oberstudiendirektors, der von 1924 bis 1945 Wismars Große Stadtschule, in deren Nachfolge die Geschwister-Scholl-Oberschule stand, geleitet hatte, meldete sich bei uns. „Ihren Auftritt in Lübeck mit Ihren netten Abiturienten fand ich einmalig. … Ihre Frische hat mich voll für Ihre Jugendlichen eingenommen und begeistert. … Es waren wirklich heikle Fragen, die von Ihren Schülern bestens beantwortet wurden. … Für mich war es überraschend, daß die Lübecker für eine Wiedervereinigung waren, die Wismarer aber dagegen.“
In der westdeutschen Presse hörte sich manches anders an. So las man im „Spiegel“: „In einer bislang beispiellosen Begegnungssendung auf Nord 3 war Moderator Joachim Wagner von der geradezu ‚staatsmännischen Sprache‘ der Jugendlichen irritiert.“ In den „Lübecker Nachrichten“ hieß es: „Die Schüler und Lehrer aus den beiden fast benachbarten Städten taten sich schwer, miteinander ins Gespräch zu kommen. Manch ein 17jähriger äußerte sich nach der Art eines mit allen Wassern gewaschenen Politikers. Besonders die Schüler aus Lübeck erweckten den Eindruck, als hätten sie das Treffen am Leitfaden der Debatte vorbereitet, die am Vormittag im Bundestag stattgefunden hatte. Lebhafter und vor allem auch in wichtigen Punkten kontrovers schilderten die Altersgenossen aus Mecklenburg ihre Erfahrungen. Geradezu trotzig klang es, als einer der Wismarer versicherte, bei ihnen sei bereits lange vor der ‚Wende‘ die Schulzeit in Ordnung gewesen.“
Am 8. Juni 1990 vermeldete die „Ostseezeitung“: „Mit 270 Schülern und 30 Lehrern fast geschlossen ist die EOS ,Geschwister Scholl‘ zu ihrer Partnerschule, dem Lübecker Katharineum, gereist. Sie wurden von ebenso vielen Eltern, Lehrern und Schülern empfangen, wie der Direktor der EOS, Oberstudienrat Dr. Harald Jörß, sehr erfreut mitteilte. Die Gastgeber hatten ausschließlich für private Unterkünfte gesorgt. Am Abend stand ein großes Schulfest auf dem Programm.“
Noch traf man sich „auf Augenhöhe“. Doch nach erfolgter Annexion der DDR gab es keine partnerschaftlichen Beziehungen mehr.
Weder der Staatsbürgerkundelehrer Ernst Schwulow noch ich durften vom Schuljahr 1990/91 an auf Weisung des amtierenden Schulrats, der sich nun Schulsenator nannte, weiter an der Schule unterrichten.
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