RotFuchs 196 – Mai 2014

Zum Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen

Bericht eines Augenzeugen

Boris Antonowitsch Popow

Der folgende Text ist einem an zwei Bürger der BRD gerichteten offenen Brief entnommen, der im Februar 2007 als „Freitagsbrief“ – Teil einer Serie von Zeugnissen Überlebender – bekannt wurde. Sein Verfasser ist ein langjähriger Leser des RF, der dieses Dokument unserer Zeitschrift zum Nachdruck angeboten hat.

Ich bedanke mich für Ihr ungewöhnliches Schreiben, in dem Sie Ihre Anteilnahme mit meinem Schicksal zum Ausdruck gebracht haben. Sie verstehen, was in Gefangenschaft geratene sowjetische Soldaten erlebt haben, insbesondere in den ersten Kriegsmonaten. Wir ergaben uns übrigens nicht, sondern wurden von unerfahrenen Kommandeuren in die Gefangenschaft geschickt. Aus diesem Grund ist es nicht korrekt, uns dafür zu beschuldigen. …

Ich diente in Belarus, 60 Kilometer von der polnischen Grenze entfernt. An Kampfhandlungen war ich als Mechaniker und Panzerfahrer beteiligt. Am 30. Juni 1941 wurde mein Panzer im Kampf um die Stadt Wolkowysk getroffen. Zwei Besatzungsmitglieder starben. Der Rest unseres Regiments zog sich nach Minsk zurück. Am 5. Juli trafen wir zwölf Kilometer von der Stadt entfernt auf deutsche Einheiten. Hitlers Infanterie in Minsk – das war für uns eine böse Überraschung!

Nach der Gefangennahme geriet ich in ein Lager bei der Siedlung Drozdy unweit von Minsk, am Fluß Swislotsch. Dort gab es über 100 000 Kriegsgefangene und Zehntausende Zivilisten in gleicher Situation. Die ersten Tage erhielten wir fast kein Essen. Einmal täglich kam ein Lkw. Von ihm wurden Lebensmittel abgeworfen: Nudeln, trockener Fisch, Heringe. Es gab unzählige Hungrige und nur geringe Chancen, etwas abzubekommen. Die Lebensmittel waren mit Erde vermischt. Man trank das schlammige Wasser aus dem Fluß. Danach wurde das Lager in die Stadt verlegt. Etwas zu essen erhielten wir einmal täglich. Die Ruhr brach aus. Die Kräfte nahmen ab. Die Gefangenen starben.

Wie sah mein weiteres Leben aus?

Im April 1945 wurde ich von sowjetischen Truppen im Stalag IV B bei Mühlberg an der Elbe befreit. Dort befand ich mich seit Mai 1942. Die ganze Zeit über arbeitete ich gemeinsam mit französischen und russischen Kriegsgefangenen in einem zum Lager gehörenden Gemüsegarten. Nach der Befreiung war ich zunächst bei der Behörde für die Repatriierung verschleppter Personen in der Stadt Elsterwerda tätig. Danach stellte mich die Militärkommandantur von Limbach für ein halbes Jahr als Dolmetscher ein. Im März 1946 kam ich nach Leningrad, wo meine Mutter die Blockade überlebt hatte. Im September 1946 setzte ich mein Hochschulstudium am Institut fort. Ich hatte es 1940 wegen der Einberufung zum Wehrdienst unterbrechen müssen.

Was meine Erinnerungen an die in Kriegsgefangenenschaft verbrachten Jahre betrifft, könnte man darüber ganze Bände schreiben. Ich werde nur einige Tatsachen schildern:

Zunächst ein positives Erlebnis: 1943 befand ich mich im Stalag IV B. Eine Kolonne arbeitete bei Bauern im benachbarten Dorf. Ich wollte auch dorthin, um das Leben der Deutschen kennenzulernen. Ein Wachsoldat führte mich zu einem Haus und übergab mich der Herrin. Sie war dann für mich verantwortlich. Tagsüber bauten wir Erdbeeren an und unterhielten uns dabei. Abends kehrte ihr Mann von der Arbeit zurück. Er schloß sich interessiert unserem Gespräch an, wobei er auf Hitler und dessen Gefolgsleute schimpfte. Vor meiner Rückkehr ins Lager schlug er mir eine erneute Begegnung vor. An dem Tag, an dem sie stattfand, hatte er Geburtstag. Ich verbrachte die ganze Zeit im Kreis seiner Familie, wie ein nahestehender Mensch. Wir saßen am Tisch, tranken Wein und unterhielten uns. Dieser Vorfall hatte großen Einfluß auf meine Einstellung zur deutschen Zivilbevölkerung.

Ich durchlief drei Lager: Minsk, Gomel (im Winter 1941) und Bobrujsk. Die Bedingungen dort waren sehr schwer. In Gomel herrschte Typhus. Tausende Kriegsgefangene starben. Sie wurden nicht bestattet. Ihre Leichen brachte man zu einem Platz und stapelte sie dort auf. Im Frühjahr wurden Kolchosmitglieder gezwungen, sie mit der Karre wegzubringen. Außerhalb der Stadt verscharrte man sie in einem Panzergraben.

Im Frühjahr wurden Überlebende des Gomeler Lagers mit dem Zug nach Bobrujsk verlegt. Von dort ging es ins Lager Lesnaja. Nach einer Monats-Quarantäne wurden Kriegsgefangene nach Deutschland, ins Stalag IV B abtransportiert. In Lesnaja wie im Stalag wurde ich nach einer Denunziation in die Liste der Juden eingetragen. Sie sollten extra deportiert werden. Nur ein Wunder rettete mich. Am Selektionstag hatte ich einen Arbeitseinsatz und wurde nicht entdeckt. Man führte eine Gruppe unter Bewachung ab. 1943 wurde ich der Prüfung durch eine Sonderkommission für Selektionen unterzogen. Sie bestand aus zwei Spezialisten in Zivil: einem SS-Offizier und seinem Dolmetscher. Beide waren aus Berlin gekommen. Sie untersuchten mich gründlich und behaupteten, ich sei Jude und hätte nur einen russischen Namen angenommen. Ich besaß keine Papiere. Mich rettete ein im Lager befindlicher Studienkamerad. Er bestätigte meine Aussage. Diesmal wurden von 23 Mann, die man überprüft hatte, 21 unter strenger Bewachung weggebracht.

Nach diesem Erlebnis entschied ich, das Lager auf keinen Fall verlassen zu wollen. Doch gesunde Kriegsgefangene durften dort nicht bleiben. Sie mußten einem Arbeitskommando zugeteilt sein. Mir half ein Dolmetscher. Er schrieb in die für einen deutschen Arzt bestimmte Liste neben meinen Namen das Wort „behindert“. Er tat das ohne mein Zutun. So blieb ich im Stalag bis zur Befreiung.

Während meiner Arbeit im Studio „Belarusfilm“ stattete ich Deutschland zwei Besuche ab. 1973 nahm ich als Vertreter der UdSSR in Berlin am UNIATEK-Kongreß teil, 1978 besuchte ich die Ausstellung „photokina“ in Köln.

Ich bin Ihnen für Ihren Brief dankbar und wünsche Ihnen Erfolg bei Ihrer Tätigkeit.

Unser Autor war stellvertretender Intendant des belorussischen Fernsehens.