Im September 1938 wurde der ČSR das Genick gebrochen
Berlin hält an München fest
Am 29./30. September 1938 entschieden Hitler und Mussolini, Chamberlain und Daladier in der bayerischen Metropole über ein Diktat. Die betroffene Prager Regierung war nicht vertreten. Die Tschechoslowakei wurde zerschlagen. „Sudetendeutsche“ kehrten „heim ins Reich“. Das „Münchner Abkommen“ löste ein konträres Echo aus. Der Brite Chamberlain feierte es als „Frieden in unserer Zeit“, wobei er hoffte, Hitlers Expansionsdrang gen Osten gelenkt zu haben. Die UdSSR, die KPD und viele nichtfaschistische Politiker urteilten, die „Münchner Politik der Befriedung“ sei der entscheidende Schritt in den Krieg. Die Naziregierung ging davon aus, ihren Aggressionskurs nun ungehindert fortsetzen zu können. Die meisten Bürger der ČSR fühlten sich verraten und verkauft. Ein halbes Jahr später wehte auf dem Hradschin die Hakenkreuzfahne. Die Tschechoslowakei blieb bis 1945 das „Reichsprotektorat Böhmen und Mähren“ des SS-Generals Heydrich und seiner Nachfolger. Die Stellung zum Münchner Diktat wurde zur entscheidenden Trennlinie aller politischen Kräfte Europas.
Wie standen beide deutsche Staaten zu München? In der Gemeinsamen Erklärung der Deutschen Demokratischen Republik und der Tschechoslowakischen Republik über Freundschaft und Zusammenarbeit wurde bereits am 23. Juni 1950 die Ungültigkeit des Münchner Diktats von Anfang an (ex tunc) erklärt. Darin hieß es: „Unsere beiden Staaten haben keine Gebiets- und Grenzansprüche, und ihre Regierungen betonen ausdrücklich, daß die durchgeführte Umsiedlung der Deutschen aus der Tschechoslowakischen Republik unabänderlich, gerecht und endgültig gelöst ist.“
Hier muß auf den Begriff Umsiedlung aufmerksam gemacht werden. Die Alliierten verwendeten den Begriff Transfer, die Tschechen jahrzehntelang odsun (Abschiebung), in der DDR war von Umsiedlern die Rede, während man in der BRD gezielt die Worte Vertreibung und Vertriebene einbürgerte. „Vertreibung“ assoziiert von vornherein Unrecht, „Vertriebene“ sind „Opfer“.
Eine Studie Tomas Staneks „Abschiebung oder Vertreibung“ untersucht die Entwicklung und Bedeutung der Begriffe, um die es hier geht. Wer „Vertriebener“ verwendet, muß beachten, welchen amtlichen Inhalt er durch ein Gesetz der BRD vom 3. September 1971 erhalten hat. Danach sind selbst die Urenkel einstiger Umsiedler „Vertriebene“.
So konnte es geschehen, daß sich deren Zahl unablässig erhöhte. Die BRD hat das Münchner Diktat bis heute nicht ex tunc für ungültig erklärt.
Am 27. Februar 2013 bat ich das Auswärtige Amt der Merkel-Regierung um Auskunft, ob der völkerrechtswidrige Gewaltakt noch in Kraft sei. Am 14. März 2013 antwortete der zuständige Mitarbeiter: „Die zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Tschechoslowakei geschlossenen Verträge (1973 und 1992) haben die unterschiedlichen Rechtsauffassungen stets ausgeklammert. Auch in der deutsch-tschechischen Erklärung vom 21. Januar 1997 wird festgehalten, daß jede Seite ihrer Rechtsauffassung verpflichtet bleibe und respektiere, daß die andere Seite eine andere Rechtsauffassung hat.“ In der Juristensprache heißt das: Nach „Maßgabe des Vertrages“ verlor die ČSR das Recht auf materielle Ansprüche ihrer natürlichen und rechtlichen Personen. Für die BRD-Seite gab es einen solchen Passus nicht.
Außerdem ist da noch die deutsch-tschechische Erklärung vom 21. Januar 1997, die durch die Parlamente beider Staaten einmütig gebilligt wurde: „Beide Seiten erklären …, daß sie ihre Beziehungen nicht mit aus der Vergangenheit herrührenden politischen und rechtlichen Fragen belasten werden.“ Auch die CDU-Fraktion, der die „Vertriebenen“-Chefin Steinbach angehört, votierte dafür. Helmut Kohl hatte in Prag ausdrücklich betont, daß Eigentumsfragen unberührt blieben.
Bis 1990 pochte jede BRD-Regierung darauf, daß die „deutsche Frage“ – als territoriales Problem – nur in einem Friedensabkommen endgültig gelöst werden könne. Erst unter völlig neuen Rahmenbedingungen setzten die wichtigsten imperialistischen Staaten auf den Zwei-plus-vier-Vertrag – ein Münchner Diktat für die DDR! Die Tschechoslowakei war abermals nicht einbezogen.
In der BRD machten sich die Sudetendeutsche Landsmannschaft, der Witiko-Bund und andere Revanchisten breit. Die DDR war innen- und außenpolitisch, ökonomisch und ideologisch im Bruderbund sozialistischer Staaten aufs engste mit der ČSSR verbunden.
Der „Prager Frühling“ 1968 zeigte den Standort beider deutscher Staaten.
1989 sprachen die Konterrevolutionäre in Prag von der „samtenen Revolution“, bei der Liquidierung der DDR hieß das Schlüsselwort hingegen „friedliche Wiedervereinigung“.
Was folgte? Da gab es das inszenierte Geschrei um die „Beneš-Dekrete“, übrigens auch im Sächsischen Landtag.
Gewisse Politiker, Publizisten, Historiker und Amtsträger der Sudetendeutschen Landsmannschaft sprechen gern über die „Europäisierung der sudetendeutschen Frage“. Dabei geht es nach ihrer Satzung um „den Rechtsanspruch auf die Heimat, deren Wiedergewinnung und das damit verbundene Selbstbestimmungsrecht der Volksgruppe“ sowie „das Recht auf Rückgabe bzw. gleichwertigen Ersatz oder Entschädigung des konfisziertem Eigentums der Sudetendeutschen“.
Voraussetzung für die Erfüllung solcher Ansprüche aber wäre die Revision der Ergebnisse des Zweiten Weltkrieges, die sowohl im Potsdamer Abkommen als auch – was die Tschechoslowakei betrifft – in speziellen Dokumenten der Staatsführung festgeschrieben wurden. Die Revanchistenforderung, die abwertend als „Beneš-Dekrete“ bezeichneten Präsidentenerlasse für ungültig zu erklären, belastet das Verhältnis zwischen Berlin und Prag. Das zeigte sich z. B. bei der Wahl des tschechischen Präsidenten Anfang 2012, als sich der damalige Außenminister Fürst Schwarzenberg und der Sozialdemokrat Miloš Zeman als Kandidaten gegenüberstanden. Die offen „prodeutsche“ Haltung Schwarzenbergs führte zu dessen Niederlage.
Vier Wochen nach der Wählerentscheidung besuchte der Prager Premier Petr Necaš die bayrische Landeshauptstadt München, die als Zentrum des antitschechischen Revanchismus in der BRD gilt. Dort gab er von sich: „Wir bedauern, daß durch die am Kriegsende erfolgte Vertreibung sowie die zwangsweise Aussiedlung der Sudetendeutschen aus der Tschechoslowakei, die Enteignung und Ausbürgerung diesen viel Leid und Unrecht zugefügt hat.“ Das widersprach dem Text der Prager Erklärung von 1997, die den Weg zur Versöhnung hatte freimachen sollen.
Sachsens seinerzeitiger Ministerpräsident Kurt Biedenkopf, der an der Arbeit der deutsch-tschechischen Kommission teilgenommen hatte, befand am 28. April 1995: „Objektive Wahrheiten, denen sich alle vorbehaltlos ein- und unterordnen können, gibt es in der menschlichen Erkenntnis nicht.“
Eine Begründung für die Weigerung der BRD-Regierung, das Münchner Diktat ex tunc für ungültig zu erklären, liefern solche nebulösen Reden nicht.
Nachricht 1921 von 2043