Bernie Sanders: Wohin die Reise für die US-Demokraten gehen muß
Bernie Sanders
Millionen Amerikaner haben mit ihrer Stimmabgabe am 8. November 2016 ihren wütenden Protest gegen ein wirtschaftliches und politisches System ausgedrückt, das die Interessen der Reichen und der Unternehmen über die ihren stellt. Ich habe Hillary Clinton nach Kräften unterstützt und war überzeugt, sie sei die richtige Entscheidung am Wahltag. Aber Donald Trump hat das Weiße Haus gewonnen, weil seine Kampagnen-Rhetorik erfolgreich einen realen und berechtigten Ärger aufgriff, einen Ärger, den auch viele traditionelle Demokraten empfinden.
Ich bin betrübt, aber nicht überrascht von diesem Wahlausgang. Es ist kein Schock für mich, daß Millionen für Mr. Trump stimmten, weil sie den ökonomischen, politischen und medialen Status quo satt hatten.
Erwerbstätige und ihre Familien müssen mit ansehen, daß Politiker finanzielle Wahlkampfunterstützung von Milliardären und Unternehmensgruppen erhalten, während die Bedürfnisse gewöhnlicher Amerikaner ignoriert werden. Seit mehr als 30 Jahren werden zu viele Amerikaner von ihren „Arbeitgebern“ ausgebeutet. Sie arbeiten länger für sinkende Löhne und sehen, daß gutbezahlte Jobs nach China, Mexiko oder andere Niedriglohnländer gehen. Sie sind es leid, daß ihre Unternehmensvorstände das 300fache dessen bekommen, was sie selbst verdienen, und daß 52 Prozent des geschaffenen Neuwerts an das oberste eine Prozent gehen. Viele ihrer einst schönen Landgemeinden sind entvölkert, die Geschäfte in den Innenstädten sind geschlossen, und ihre Kinder ziehen weg, weil es keine Jobs gibt – während die Firmen den Reichtum der Gesellschaft absaugen und in ihre Off-shore-Konten stopfen.
Die arbeitende Bevölkerung in den USA kann sich keine anständige Krankenversorgung für ihre Kinder leisten. Sie kann ihre Kinder nicht auf weiterführende Schulen schicken, und sie hat nichts auf der hohen Kante, wenn das Rentenalter erreicht ist. In vielen Teilen des Landes findet sie keine erschwinglichen Wohnungen, und die Beiträge zur privaten Krankenversicherung sind viel zu hoch. Zu viele Familien leben in Hoffnungslosigkeit, weil Drogen, Alkohol und Selbstmorde die Lebenserwartung einer wachsenden Zahl von Menschen verkürzen.
Der gewählte Präsident Trump hat recht: Das amerikanische Volk will die Veränderung. Aber welchen Wechsel bietet er ihm an? Wird er den Mut haben, gegen die Mächtigsten in diesem Land aufzustehen, die für das wirtschaftliche Leid so vieler erwerbstätiger Familien verantwortlich sind, oder will er die Wut der Mehrheit gegen Minderheiten, Einwanderer, Arme und Hilflose wenden?
Demonstration gegen Donald Trump in New York
Wird er den Mut haben, gegen die Wall Street aufzustehen und daran arbeiten, die Finanzinstitute, die „zu groß zum Scheitern“ sind, aufzuteilen, und wird er von den großen Banken fordern, daß sie in Kleinunternehmen investieren, Jobs im ländlichen Amerika und in den verödeten Innenstädten schaffen? Oder wird er wieder einen Wall-Street-Banker an die Spitze des Finanzministeriums setzen, damit alles weiter seinen Gang geht? Wird er, wie er es im Wahlkampf versprochen hat, sich wirklich die Pharmaindustrie vornehmen und die Preise rezeptpflichtiger Medikamente senken?
Ich bin tief betrübt zu hören, daß Amerikaner nach dem Wahltag belästigt wurden und daß sie verängstigt sind durch den Sieg von Mr. Trump, und ich höre die Klagen von Familien, die in Angst davor leben, nun auseinandergerissen zu werden. Unser Land ist im Kampf gegen Diskriminierung sehr weit gekommen. Wir werden nicht zurückstecken. Bleiben Sie versichert, es gibt keinen Kompromiß mit Rassismus, Bigotterie, Fremdenfeindlichkeit oder Sexismus. Wir werden das in allen Formen bekämpfen, wann immer und wo immer so etwas auftaucht. – Ich bleibe offen für die Ideen, die Mr. Trump anbietet, wann und wie wir zusammenarbeiten können. Aber da er landesweit die Mehrheit der Stimmen verfehlt hat, tut er gut daran, die Sichtweise der fortschrittlichen Kräfte zu beherzigen. Wenn es ihm als gewähltem Präsidenten ernst ist mit einer Politik, die das Leben der arbeitenden Familien verbessert, werde ich ihm einige ganz reale Gelegenheiten bieten, meine Unterstützung zu erhalten.
Laßt uns unsere zerfallende Infrastruktur wieder aufbauen und Millionen gut bezahlter Jobs schaffen! Laßt uns den Mindestlohn so weit anheben, daß man davon leben kann, den Studierenden helfen, ihre Studiengebühren aufzubringen, die Sozialversicherung ausweiten und die Familienbeihilfen und Krankheitskosten-Erstattungen erhöhen! Laßt uns das Wirtschaftssystem reformieren, das Milliardären wie Mr. Trump ermöglicht, nicht einen Cent Bundessteuern zu bezahlen! Und am allerwichtigsten: Laßt uns den Zustand beenden, daß reiche Spender sich Wahlen erkaufen können!
In den kommenden Tagen werde ich zudem einige Vorschläge zur Reform der Demokratischen Partei unterbreiten. Ich bin fest davon überzeugt, daß sich die Partei aus den Fesseln des Unternehmens-establishments befreien und wieder zu einer „Graswurzel-Partei“ der Arbeitenden, der Älteren und Ärmeren werden muß. Wir müssen die Türen der Partei öffnen und den Idealismus und die Energie der Jüngeren sowie alle Amerikaner, die für wirtschaftliche, soziale, rassische und ökologische Gerechtigkeit kämpfen, willkommen heißen. Wir müssen den Mut haben, es mit der Gier und der Macht der Wall Street aufzunehmen, der Pharmaindustrie, den Versicherungsgesellschaften und der fossilen Treibstoff-Industrie.
Als ich meine Bewerbung um die Präsidentschaftskandidatur beendete, bat ich meine Unterstützer, daß die politische Revolution weitergehen möge. Nun muß das mehr denn je geschehen. Wir sind die reichste Nation in der Weltgeschichte. Wenn wir zusammenstehen und nicht zulassen, daß uns Demagogen spalten – nach Rasse, Geschlecht oder nationaler Herkunft –, gibt es nichts, was wir nicht erreichen können. Wir müssen vorwärtsgehen, nicht zurück!
Bernie Sanders vertritt seit 2007 den Bundesstaat Vermont im US-Senat. Der Parteilose trat in der Vorwahl der Demokraten für die Präsidentschaftswahl an und war deshalb zeitweilig als Demokrat registriert (siehe auch RF Nr. 213, S. 17, und Nr. 219, S. 17). Sein Beitrag erschien am 11. November 2016 in der „New York Times“. Aus dem Amerikanischen von Bernhard Sander in „Sozialismus“, Nr. 11/2016