RotFuchs 189 – Oktober 2013

„Blutsbrüder“ –
Hochaktuelles aus den 30ern

Thomas Behlert

Wenn man sich ein bißchen durch Statistiken gräbt, um den mittlerweile gravierenden Unterschied zwischen Arm und Reich zu analysieren, bekommt man zwangsläufig mit, daß die Kinder am meisten zu leiden haben. In Familien, die vom Kapitalismus stark gebeutelt werden, wachsen die unschuldigen kleinen Dinger ohne rechte Freude auf. Abgetragene Anziehsachen gibt es beim DRK, die Nahrung in Suppenküchen, und das Spielzeug ist nicht selten von der anwachsenden Müllkippe „beschafft“ worden. Die Arbeitslosenunterstützung wird auf Teufel komm raus gekürzt.

Mancherorts schlafen Minderjährige unter freiem Himmel, besorgen sich Geld durch kriminelle Handlungen oder gehen sogar auf den Kinderstrich.

Sehr detailgetreu hat Ernst Haffner in den 30er Jahren das aufgeschrieben, was auch heute oftmals kaum anders ist. Schnörkellos und ohne verbale Umschweife, verdammt ehrlich und erschütternd berichtet er in seinem Buch „Blutsbrüder“ von einer Gruppe Berliner Jugendlicher, welche von der Gesellschaft abgeschrieben sind, ohne Wohnung und Familie dahinvegetieren und in der Weimarer Republik, die selbst in den letzten Zügen liegt, zu überleben versuchen.

Wer einmal mit dem Lesen des Textes beginnt, kann nicht mehr aufhören. Man fiebert regelrecht mit, erlebt das bittere Geschehen und ist erleichtert, wenn die verstoßenen Jugendlichen wenigstens etwas Nahrung auftreiben können und ihren Schlafplatz in irgendeiner heruntergekommenen Wohnstätte ergattern. Die meisten der viel zu schnell erwachsen gewordenen Kinder sind aus Heimen entwichen, in denen es sich nicht leben läßt. Ihre „Erzieher“ sind brutal, allein auf „Zucht und Ordnung“ bedacht. Sie vergreifen sich auch sexuell an ihren Schutzbefohlenen. Diese Beschreibungen erinnern nur allzusehr an die publik gewordenen Übergriffe in katholischen Einrichtungen dieser Art.

Der als Journalist und Sozialarbeiter tätig gewesene Haffner verschafft seinen Lesern ein exaktes Bild von den damaligen Zuständen: „Der ganze Raum ist in die Lieblingsfarben der Wohlfahrtsinstitutionen gekleidet: graugrüne Kalkfarbe, dunkelgrüne Ölfarbe. Zerschlissen, zerwetzt, abgeschabt und beschmutzt von Tausenden anlehnenden Menschenrücken.“ In so beschriebenen Quartieren, billigen Kneipen und verlassenen Lagerhallen hält sich die um Johnny gruppierte „Blutsbrüder“-Clique auf. Einer steht für den anderen, gemeinsam sind sie ständig auf der Suche nach etwas Eßbarem, wobei sie auch nicht vor kriminellen Handlungen zurückschrecken. Die beiden Hauptgestalten des Romans – Willi und Ludwig – versuchen ganz ohne Papiere, trotz Polizeigewalt, wiederholter Einweisung in Fürsorgeanstalten und Drohungen ihrer mittlerweile zur organisierten Kriminalität abgerutschten „Blutsbrüder“ ehrlich zu bleiben.

Von 1925 bis 1933 lebte, arbeitete und schrieb Haffner in Berlin. Den nun vorliegenden Titel rechneten die Nazis 1938 zu den „schädlichen und unerwünschten Büchern“. Sie setzten das Werk auf den Index und verbrannten es.

Mit dem Machtantritt Hitlers verliert sich Ernst Haffners Spur. Bekannt ist lediglich noch, daß er mit seinem Lektor zur faschistischen Reichsschrifttumskammer, die im „Dritten Reich“ über Erscheinen oder Nichterscheinen jeglicher Literatur befand, vorgeladen wurde, um das Buch noch einmal „durchzusprechen“. Danach tauchte der Name des Autors dieses packenden und noch heute aktuellen Buches nicht mehr auf.

Ernst Haffner:

Blutsbrüder
Ein Berliner Cliquenroman

Metrolit-Verlag, Berlin 2013, 240 S.

19,99 €