Was die „zivilisierte westliche Welt“ kaltläßt
Boko Haram massakrierte
Tausende Nigerianer
Wenn ultra-islamistische Terroristen in Paris über ein Satiremagazin herfallen und einige seiner Zeichner brutal ermorden, begeben sich die Staatschefs der kapitalistischen Welt, darunter auch solche, die selbst gehörig Dreck am Stecken haben, in Windeseile zum Ort des Geschehens. Sie stellen dort ihr vermeintliches Mitgefühl zur Schau und heucheln „Solidarität“ mit den Opfern. Doch wenn in einer Reihe westafrikanischer Staaten 8000 Menschen an Ebola elend zugrundegehen, weil man zur Bekämpfung der Seuche noch kein adäquates (und profitbringendes) Heilmittel entwickelt hat, ist dieser Vorgang, solange die weißen Kontinente nicht davon betroffen sind, kaum mehr als eine Erwähnung in den Abendnachrichten wert.
Nicht anders verhielt es sich lange Zeit mit den entsetzlichen Bluttaten der ultraislamistischen Sekte Boko Haram, die im Norden Nigerias Schulmädchen kidnappt, ein Blutbad nach dem anderen anrichtet und bereits Tausende und aber Tausende in ihre Fänge Geratene massakriert hat. Schwarze Menschen! Wären die unglückseligen minderjährigen Schülerinnen, die der religiös verbrämte Killerklan in Chibok zu Hunderten gewaltsam entführt, sexuell mißbraucht, verkauft und möglicherweise sogar bei Selbstmordattentaten in den Tod geschickt hat, Europäerinnen aus einem „zivilisierten Land“ wie Frankreich oder der BRD gewesen, hätte sich vermutlich auch ihretwegen die Creme der die kapitalistische Welt Regierenden eingestellt!
Boko Haram (Buch voller Sünden) ist eine Organisation jihadistischer Extremisten, die Nigerias Nordoststaat Borno fest im Griff hat und von dort aus ihre Terrorfeldzüge unternimmt. Die Streitkräfte des siebtgrößten Staates der Welt mit einer Bevölkerung von 184 Millionen sind ihr nicht gewachsen, die Befehlshaber der Armeen des imperialistischen Paktsystems aber verspüren keine Lust, sich mit den vor nichts zurückschreckenden Terroristen zu messen. Jetzt sind Truppen anderer afrikanischer Staaten dieses Risiko eingegangen.
Nigerias Reichtum ist das Erdöl. Der OPEC-Mitgliedsstaat liegt derzeit an 13. Stelle unter den Förderern des schwarzen Goldes. Seine Ölreserven werden auf 37 Mrd. Barrel (Faß) geschätzt. Vermutet werden überdies erhebliche Mengen Erdgas. Die Exportstruktur des ostafrikanischen Landes basiert auf Erzeugnissen des Bergbaus, der Landwirtschaft und des Fischfangs, was Nigerias Abhängigkeit von flukturierenden Weltmarktpreisen erkennen läßt. Derzeit ist es wie Rußland und Venezuela vom Absturz der Öl-Erlöse empfindlich betroffen. Die Weigerung Saudi-Arabiens, seine Förderung im Interesse einer Preisstabilisierung zu drosseln – es handelt sich dabei um die OPEC-Standardmethode in Preisverfallszeiten –, zeitigt für Nigerias Wirtschaft verheerende Folgen. Hinzu kommt, daß seine Raffinerien trotz des enormen Reichtums an Rohstoffen in einem so schlechten Zustand sind, daß sogar Benzin importiert werden muß.
Zur Unzufriedenheit breiter Schichten der nigerianischen Bevölkerung gesellt sich eine ins Kraut geschossene Korruption. Tiefgreifende moralische Auswirkungen hat auch das Unvermögen der Regierung des Präsidenten Goodluck Jonathan und seiner Volksdemokratischen Partei, dem sich ständig ausweitenden Terror von Boko Haram ein Ende zu setzen. Das eröffnete dem früheren Militärdiktator Muhammadu Buhari die Möglichkeit, an die Spitze einer Fünf-Parteien-Koalition zu treten, der schon vor den zunächst für Februar angesetzten, dann aber auf Ende März verschobenen Wahlen günstige Prognosen zugebilligt wurden. Der Sozialistischen Partei als einziger linker Formation Nigerias verwehrte die Nationale Wahlkommission ausdrücklich das Recht zur Kandidatenaufstellung.
Nigeria entstand 1914 als britische Kolonie. Londons Interesse war einerseits kommerziell bedingt, andererseits aber auch darauf gerichtet, Frankreichs weitere koloniale Expansion im schwarzafrikanischen Raum zu stoppen. An Ort und Stelle zeigte man sich uneinheitlich: Während moslemische Emire im Norden ihre eigenen Herrschaftsbereiche als Vasallen der britischen Krone aufrechterhalten konnten, setzten sich im Süden christliche Missionare gegen die bestehenden Religionsgemeinschaften durch.
1960 wurde Nigeria unabhängig. Seine erste Regierung bildeten konservative Kräfte aus dem Norden, die mit den Briten nach wie vor gemeinsame Sache machten. 1966 stürzte eine Gruppe jüngerer Armeeoffiziere Premierminister Abubakar Tafawa Balewa. Er und sein nördliches Gefolge wurden getötet. Die Auseinandersetzungen führten zur vorübergehenden Umwandlung Südost-Nigerias in den unabhängigen Staat Biafra – eine zeitweilige Abspaltung, die sich auf Dauer aber nicht halten ließ. Schwache Zivilregierungen und Militärdiktaturen lösten in der Folge einander ab, doch die Nord-Süd-Teilung blieb bestehen.
Der in diesem Jahr für einen „Kongreß aller Fortschrittskräfte“ angetretene Präsidentschaftskandidat Buhari ist ein alter Bekannter: Er war nicht nur General, sondern auch Gouverneur jenes nordöstlichen Staates, auf dessen Territorium Boko Haram jetzt sein blutiges Imperium errichtet hat. 1983 kam er durch einen Militärputsch in Lagos an die Macht. Nach weniger als zwei Jahren wurde er durch einen anderen Staatsstreich zu Fall gebracht. 2011 unterlag Buhari bei den Präsidentschaftswahlen Goodluck Jonathan. Dessen Volksdemokratische Partei hatte bisher stets die Praxis befolgt, ihre Kandidaten alternierend mal aus dem christlichen Süden, mal aus dem moslemischen Norden zu rekrutieren.
Seine Wiederwahl 2011 unterbrach diesen Modus, was das nördliche Wahlvolk gegen ihn aufbrachte und Boko Harams Aktionsradius wesentlich erweiterte. Im Vorfeld der Wahlen wirkte sich das Scheitern des Präsidenten bei der Bekämpfung der Korruption und sein Unvermögen, dem Terror von Boko Haram Einhalt zu gebieten, zugunsten Buharis aus. Der hatte sich für die Einführung der islamistischen Sharia ausgesprochen, die allerdings nur im Norden gelten solle.
RF, gestützt auf „People’s World“, New York
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