RotFuchs 226 – November 2016

Brasilien:
Verschwörung gegen die Demokratie

Peter Steiniger

Das „Land der Zukunft“, das der deutsche Emigrant Stefan Zweig bereits 1939 in einem Bestseller anpries, hat den Rückwärtsgang eingelegt. Am 31. August wurde mit der Amtsenthebung der Präsidentin Brasiliens, Dilma Rousseff von der Arbeiterpartei (PT), ein politischer Umsturz vollendet. Das Votum im Senat setzte den Schlußstrich hinter eine mehr als 13 Jahre währende Periode, in welcher die PT auf nationaler Ebene den Kurs des Riesenlandes bestimmt hatte. Viermal in Folge waren die Kandidaten der größten linken Partei des Kontinents siegreich aus Präsidentschaftswahlen hervorgegangen. Die sozialen Programme von Lula da Silva und Dilma Rousseff holten Millionen aus der Armut, schufen Chancen auf Bildung und Aufstieg für die Angehörigen der Bevölkerungsmehrheit. Außenpolitisch verfolgte Brasilien eine von den USA emanzipierte Politik, wirkte aktiv bei der regionalen Integration mit, spielte eine wichtige Rolle im Konzert der BRICS-Staaten.

Lula und Dilma in besseren Tagen …

Lula und Dilma in besseren Tagen …

Für Brasilien, das nach wie vor am Erbe von Kolonialismus, Sklavenhaltergesellschaft und Militärdiktatur trägt, waren das geradezu revolutionäre Veränderungen. Lula da Silva erreichte zum Ende seiner zweiten Amtszeit beeindruckende Popularitätswerte, von denen auch seine Amtsnachfolgerin noch zehrte. Im Land selbst als „Vater der Armen“ verehrt, wurde der frühere Gewerkschaftsführer Lula nicht nur zu einer Ikone der Linken, sondern weltweit als großer Staatsmann geachtet. Unter ihm gab es für alle Brasilianer mehr vom Kuchen – und dies ohne daß man den Eigentümern der Bäckerei zu nahe trat ... Gestützt auf den Export von Rohstoffen und Agrarprodukten und auf ein solides Wirtschaftswachstum, angekurbelt durch die neuen Konsumenten aus den Unterschichten, war es möglich, Familien zu fördern, Wohnungen und öffentliche Hochschulen zu bauen. Brasilien blühte auf während des scheinbaren Burgfriedens der Klassen: Eigentum, Macht und Privilegien der konservativen Eliten blieben unangetastet. Sie sind nach wie vor im Besitz von Schlüsselstellungen im Staat, in der Wirtschaft, in der Armee und der Justiz. Das Medienmonopol des Globo-Konzerns blieb bestehen und wurde weiter mit öffentlichen Geldern gesponsert. Auch ihre Mentalität erhielten sich die seit jeher herrschenden Kreise, geprägt von der Arroganz und Willkür des Herrenhauses gegenüber der Sklavenhütte. Die soziale Konterrevolution, die das Land nun erlebt, wird keine halbe Sache.

Endlich ebenbürtig: Mit der Fußball-WM und den Olympischen Spielen holte Brasilien unter Lula für 2016 zwei prestigeträchtige Groß-ereignisse ins Land. Dann trafen die Folgen der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise auch dieses Land. Und zwar hart. Preise stiegen, Arbeitsplätze verschwanden, die Unzufriedenheit nahm zu. Gründe dafür gibt es ohnehin genug: Die Megastädte leiden unter Verkehrsinfarkten, Gewalt und Kriminalität. Polizei und Gefängnisse sind eher Teil des Problems. Gesundheit und Bildung sind privat fast unerschwinglich oder öffentlich häufig weiter nur auf Dritte-Welt-Niveau. Trotzdem flossen Milliarden in Großprojekte rund um die Sport-Events. Viel Geld versickerte in dunklen Kanälen. Einwohner ärmerer Viertel mußten Platz für Neubauten machen und wurden an die Peripherien verdrängt. 2013 flammten soziale Proteste auf. Die Reaktion witterte ihre Chance und ging in die Offensive. Die Globo-Medien mobilisierten massiv die Straße – und bestimmten ihre Agenda neu. Rechte „Bürgerbewegungen“ tauchten auf, die einen moralisch aufgeladenen, heuchlerischen Kampf gegen „die Korruption“ zu führen vorgeben. Als Feind sehen sie soziale Bewegungen und linke Parteien, Lula und Dilma, wie sie Brasilien nur genannt werden, verdammen sie. Die Forderung nach einer „starken Hand“ wurde laut. Besonders über das Internet verbreitete sich eine irrationale und hysterische antikommunistische Haßagitation. Präsidentin Rousseff versprach Maßnahmen für Bildung und Gesundheit, holte Tausende kubanische Ärzte ins Land, warb für eine strengere Ahndung von Korruption und für eine Politikreform. Im Kongreß biß sie damit auf Granit.

Der Boden dafür, der PT die Macht wieder abzunehmen, schien bereitet. Das Jahr 2014 sah einen hart geführten Lagerwahlkampf. Doch mehr als 54 Millionen Wähler entschieden sich in einer Stichwahl erneut für Rousseff, bescherten dem Kandidaten des konservativen Lagers, PSDB-Parteichef Aécio Neves, eine Niederlage. Dieser Ausgang war für die Eliten unakzeptabel. Eine sogenannte dritte Runde mußte her, eine Verschwörung gegen die Demokratie. Ein Jahr lang wurde konspiriert, begleitet von Medienkampagnen gegen Rousseff und die PT. Dann war ein scheinlegaler Hebel bereit. Im Mai wurde die Präsidentin mit der Einleitung eines Amtsenthebungsverfahrens durch das rechts dominierte Parlament vorläufig suspendiert. Ihr Vize Michel Temer, der mit seiner rechtspopulistischen PMDB Treuebruch begangen hatte, übernahm die Hebel der Macht und installierte im Bündnis mit den konservativen Wahlverlierern eine neue Regierung. Ihr gehören ausschließlich weiße reiche Männer an.

Der Kurs des Landes wurde rabiat geändert. Die Ausgaben für Bildung, Gesundheit und Soziales sollen auf Jahre „gedeckelt“ werden. Auf die Rechte der Beschäftigten, auf Renten und Löhne, läuft ein Generalangriff. Große Privatisierungen stehen an, strategische Bereiche der Wirtschaft wie der Ölsektor sollen für das Auslandskapital geöffnet werden. Temers Außenminister José Serra attackiert scharf links geführte Nachbarländer wie Venezuela und Bolivien.

Der letzte Akt des Prozesses gegen Rousseff im Senat war nichts weiter als eine juristische Farce, geleitet vom Präsidenten des Obersten Gerichtshofes. Ganz so, wie es die Verfassung vorsieht. Die fordert für eine Absetzung des Staatschefs allerdings auch das Vorliegen von schwerem Amtsmißbrauch. Die Anklagen gegen Rousseff wegen einer angeblichen Schönung von Haushaltszahlen und vom Kongreß „nicht genehmigter Kreditvergaben“ waren fadenscheinig. Rousseff verteidigte sich selbst vor dem Senat, widerlegte die Vorwürfe, prangerte den stattfindenden politischen Putsch an. Doch ihre Absetzung war bereits beschlossene Sache. Das passive Wahlrecht ließ man ihr paradoxerweise. So offenkundig war, daß man die Präsidentin für ein nicht begangenes Verbrechen verurteilt hatte. Nur wenige Tage nach vollzogenem Machtwechsel räumte Temer freimütig ein, daß Rousseff einzig deshalb gehen mußte, weil sie dem politischen Programm seines Lagers im Wege stand.

Allerorten wird nun unter der Losung „Weg mit Temer!“ demonstriert, und ein Mann steht dem rechten Rollback besonders im Weg: Bei Wahlen 2018 wäre Lula erneut Favorit. Nun nimmt ihn die Justiz ins Visier, klagt ihn – ohne Beweise, doch mit festen „Überzeugungen“ – an als „Oberkommandierenden einer kriminellen Organisation“. Die konkreten Vorwürfe rund um ein Apartment am Meer, welches ihm weder gehört noch je von ihm genutzt wurde, sind lachhaft. Lulas einziges Verbrechen ist sein Eintreten für die Zukunft der kleinen Leute im Land am Zuckerhut.