Compañera Christa: Für junge und jung gebliebene Rotfüchse
Brief an meinen Vater (Teil 2)
Ich wurde in der Neujahrsnacht 1941 geboren. Ihr habt mir den Namen Christa gegeben. Heute weiß ich, daß er damals zu den unerwünschten Namen zählte.
Nach dem Gefängnisaufenthalt mußtest Du als Streckenarbeiter bei der Reichsbahn arbeiten. Du nahmst diese harte Arbeit an, weil Dir jede Arbeit recht war, nur nicht Soldat an der Front sein. Dein Dienst war hart. Wie war Dir zumute, wenn Du täglich zwölf Stunden Streckendienst hattest, bei Eis und Schnee? Mutter erzählte, Du bist immer schweigsamer geworden. Du hast ihr von den Transporten erzählt, abgesperrt und bewacht von SS-Männern und Hunden. Waggons mit blutigen Türen und Schreien in der Nacht.
In einer Winternacht mußtest Du zum nächsten Stellwerk laufen, weil die Telefonleitungen durch Schneestürme zerrissen waren. Zu Fuß gingst Du durch die Nacht, begleitet von einem älteren Kollegen. Der Schneesturm tobte. Ihr nahmt den kürzeren Weg über die Gleise, Du voran. Du warst der Jüngere. Ihr wußtet, daß der Schnellzug aus Breslau von vom kommen würde. Da konntet ihr aufs Nebengleis ausweichen. Daß ein ungeplanter Zug aus der Gegenrichtung kam, konntet Ihr nicht wissen, auch nicht hören. Der Schneesturm war zu heftig. Der Zug erfaßte Euch von hinten. Man fand Euch erst im Morgengrauen.
Dein Glück mit Hedwig war ein kurzes Glück: zwei Jahre und ein halbes. Für Mutter war es die Wiederkehr des Schreckens. Hatte sie doch kaum den Tod von Joseph Rainer und das schreckliche Jahr im Frauengefängnis Dresden mit Deiner Liebe überwinden können.
Ich war zwei Jahre und vierzehn Tage alt. Was sie getröstet haben mag, weiß ich nicht. Vielleicht waren es die Tausende von Frauen, deren Männer den „Heldentod“ starben und weiter sterben mußten. Das „Feld der Ehre“ war ja größer als Europa geworden.
Mutter war jetzt wieder allein. Nun mit drei Kindern. Ihr Leben war geprägt von früher Liebe, Armut, Bitternis, Arbeit, Trauer, Verrat, Leidenschaft, Standhaftigkeit, Unglück und Verzweiflung - und dennoch anhaltendem Lebensmut.
Welche Bilder der Erinnerung habe ich an Dich? Eine einzige lebendige Erinnerung: ein früher Morgen ist es wohl, Du nimmst mich in Dein Bett, zwei Arme, die mich hochheben, ich schwebe glücklich - ängstlich über einem Gesicht - Deinem Gesicht, von dem ich nur noch vage Konturen sehe. Auf dem Tisch brennen Kerzen. Da steht ein weißes Puppenbett aus Blech mit kleinen Kissen und einer Puppe darauf. Daneben ein paar winzige rehbraune Schuhe aus Wildleder. Dein Gesicht verschwimmt. Es müßte der 1. Januar 1943, mein zweiter Geburtstag, gewesen sein. Vierzehn Tage später geschah das Unglück, am 15. Januar 1943 auf der Bahnstrecke Liegnitz–Großbeckem.
Ein Foto gibt‘s noch, eine Zehntelsekunde Zeit, festgehalten auf Papier. Mai 1943 ist auf der Rückseite vermerkt. Da steh ich an Deinem Grab. (Du hattest ein Grab in der „Heimat“.)
Es ist mit Stiefmütterchen bepflanzt – und ich, ein kleines Mädchen mit eingestecktem Kamm auf dem Kopf, Kopftuch mit weißen Punkten und dunklem Röckchen, dunklen Strümpfen, die um die Kinderbeine schlottern. Da stehe ich, versunken in kindlich naiver Todtraurigkeit, an einem Grab, das Gesicht auf die Hand gestützt. Die Schatten jener Zeit haben sich uns Kriegskindern eingeprägt wie tiefe Eindrücke in Wachs.
Als der Krieg dem Ende zuging, verschlug es uns als Umsiedler nach langen Irrfahrten Anfang Februar von Liegnitz in ein kleines thüringisches Dorf bei Jena. Mit dreißig Pfund Handgepäck. Mutter hatte Dein Schifferklavier mitgenommen, das einzige, was ihr von Dir geblieben war. Meine Schwester Margot hat darauf spielen gelernt.
In diesem Dorf Wogau erlebten wir die letzten Kriegsmonate als Flüchtlinge, von den Bauern ungern aufgenommen. Der Hof, in dem wir eine Bodenkammer bewohnten, wurde für kurze Zeit Lazarett. Da es schon Ende April war, lagen die Verletzten in der Scheune und im Hof auf Stroh. Die Schreie und die blutigen Verbände der verwundeten Soldaten verfolgten mich bis in den Schlaf. Im Traum konnte ich mich vor ihnen in einem großen Persilkarton mit grüner Schrift verstecken. Ich sah noch die bewachten Häftlingskolonnen aus Buchenwald, die durch unser Dorf kamen, halbverhungerte Gestalten in gestreiften Anzügen. Schrecken und Angst beherrschten jeden Tag. Tiefflieger kamen, Bomben fielen.
Im Mai war Frieden. Ich sitze nackt in einer Holzbadewanne mitten auf dem Hof. Sonne scheint. Es ist das erste Foto, das es von mir gibt, auf dem ich lächle.
Mutter hat nicht wieder geheiratet, wohl nicht mal den Versuch gemacht, noch als Frau Erfüllung zu finden. Witwen gab’s wie Sand am Meer, und die Nachkriegsjahre unterlagen den Gesetzen des Hungers und des Neuaufbaus. Mutters Lebensmut reichte gerade so weit, uns Kinder satt zu bekommen. Die Bauern gaben uns nichts umsonst. Da mußte sie sich von Deinem Schifferklavier trennen, aus Hunger für ein paar Kartoffeln.
Sie hat im Dorf einen kleinen Kindergarten aufgebaut, für die Flüchtlingsfrauen, die in der Ziegelei arbeiteten, eine Baracke am Sportplatz. Später hat sie wieder als Verkäuferin in Jena gearbeitet, mit Freude und Freundlichkeit.
Lieber Vater, ich bin jetzt viel älter, als Du geworden bist. Die Toten bleiben jung, die Lebenden werden alt. Du starbst mit 31 Jahren, ich bin 74. Du hast zwei Enkelsöhne: Adrian und Sebastian und die Urenkel Christoph, Golo, Odin und Wieland. Du wärst stolz auf sie. Es tröstet mich, daß Du in Deinen Enkeln und Urenkeln weiterlebst.
Als der Krieg 1943 endete, da glaubten wir alle nach dem Grauen, daß es nie wieder einen Krieg geben würde. Niemals! In diesem Sinne bin ich in meinem kleinen Land DDR erzogen worden. Seit wir 1990 vereinnahmt wurden, mußten wir uns wieder an Kriege gewöhnen.
Deutsche Soldaten sind zur Zeit in 15 Kampfgebieten der Welt. Wir schreiben das Jahr 2015.
Und es riecht wieder nach Krieg, nach Weltkrieg, Vater. Die Medien hetzen gegen Rußland, wie in alten Zeiten. Und ich bange um die Söhne und Enkelsöhne, Deine Enkel und Urenkel …
Soll Euer aller Sterben, sollen der Tod von 50 Millionen Menschen und ein zerstörtes Europa vergeblich gewesen sein?
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