Gedanken und Bedenken eines in Portugal lebenden
deutschen Kommunisten
Brief aus der Algarve
Derzeit bin ich nach längerer Unterbrechung aus Krankheitsgründen mit einer Lese-Aufholjagd befaßt. Zu dem in der Zwischenzeit liegengebliebenen wichtigen Material gehören auch etliche „RotFüchse“. Einige Beiträge, mit denen ich mich gründlicher beschäftigte, brachten mich zum Grübeln. Das betrifft besonders auch die Märzausgabe, in der es um den Verlauf der Ereignisse im Spätherbst 1989 ging.
Ohne die konkrete Situation selbst miterlebt zu haben, frage ich mich: Hätte sich damals tatsächlich alles so abspielen müssen, wie es dann gekommen ist? Zu Problemen, bei denen wir möglicherweise nicht ganz übereinstimmen, bitte ich die Redaktion und die Leser um ihre Hilfe.
Als die Konterrevolution 1989/90 ihren Höhepunkt erreichte, übersiedelte ich gerade aus dem Ruhrpott, wo ich als kommunistisch organisierter Arbeiter tätig gewesen war, mit meiner damaligen Lebensgefährtin nach Portugal. Wir bemühten uns dort um den Aufbau einer neuen Existenz.
Das war gerade jene Zeit, in der ich gezwungenermaßen die Nachrichtensendungen nicht immer verfolgen konnte. So sind meine Erkenntnisse und mein Wissensstand zwangsläufig lückenhaft.
Ich möchte mich, wenn auch verspätet, zum Artikel der von mir hoch geachteten Genossen Heinz Keßler und Fritz Streletz äußern. In der Märzausgabe gingen sie davon aus, daß in der damaligen Situation ein Schußwaffengebrauch völlig ausgeschlossen werden mußte. Damit bin ich vollkommen einverstanden. Ich stelle mir aber die Frage, warum die NVA und die anderen Sicherheitsorgane der DDR in jener dramatischen Zeit in den Kasernen bleiben mußten. Warum schickte man nicht mit der DDR verbundene Militärs mit Lkws auf die Straßen, deren Spruchbänder hätten heißen können: „Wir wollen unseren Staat reformieren, aber im Sozialismus bleiben“? Agitation in diesem Sinne war doch nicht verboten. An allen wichtigen Verkehrsknotenpunkten hätten verläßliche Angehörige der NVA – ohne Waffen – stehen sollen, um den auf eine Liquidierung der DDR Setzenden im Innern wie außerhalb der Landesgrenzen zu bedeuten: Wir kapitulieren nicht kampflos!
Die beiden Autoren erinnern daran, daß es kein Gesetz zum Einsatz der NVA im Landesinnern gegeben habe. Doch in welcher revolutionären oder auch konterrevolutionären Situation kann man sich allein auf Paragrafen berufen? Vielleicht unterschätze ich aber auch den Auflösungsprozeß, der zu dieser Zeit bereits in der DDR in vollem Gange gewesen sein muß.
Eine Bemerkung zu dem in aller Eile formulierten und buchstäblich über das Knie gebrochenen Reisegesetz, das dann auch noch vorzeitig bekanntgegeben wurde: Nach meinem Eindruck hat die Mehrheit der DDR-Bevölkerung – zumindest lange Zeit – hinter ihrem Staat und der Partei gestanden. Das von der „Opposition“ und deren Hintermännern im Westen ins Spiel gebrachte Verlangen nach allgemeiner Reisefreiheit sollte doch nichts anderes sein als die Legalisierung von Republikfluchten. Warum ging man in dieser Frage nicht rechtzeitig zur Gegenoffensive über und erklärte: Ein neues Reisegesetz kann es nicht so auf die Schnelle geben, weil dieses – wie das etliche Male zuvor in der DDR bereits mit Erfolg praktiziert worden ist – zunächst von der Bevölkerung öffentlich diskutiert werden muß. Wer indes die DDR verlassen möchte – bitte! In 14 Tagen sind sämtliche Rathäuser und Gemeinderäte dazu in der Lage, entsprechende Anträge entgegenzunehmen. Allerdings unter einer Bedingung: Jeder, der Interesse an einer legalen Ausreise hat, muß zuvor die Aufwendungen des Staates für sein Studium und seine Berufsausbildung an diesen zurückzahlen. Die Anträge werden binnen 14 Tagen bearbeitet, und nach Genehmigung kommt der Ausreisende für seine von der DDR verauslagten Mittel auf. Er muß dann die Republik innerhalb weiterer zwei Wochen unter Paßabgabe verlassen haben. Garantiert hätten so manche darüber nachzudenken begonnen, zumal die Ausreise auf einmal keine verbotene Angelegenheit mehr war.
Stattdessen entstand in der DDR eine panikartige Atmosphäre mit epidemischen Massenfluchten, wie sie schlimmer nicht hätte sein können.
Wie aber kam es zu dieser Situation? Der in meinen Augen gravierendste Faktor war das immer schnellere Auseinanderdriften zwischen dem, was Partei und Presse verkündeten, und der tatsächlich erlebbaren Realität. Außerdem war offenbar ein immer größer werdendes Geflecht persönlicher Beziehungen und Abhängigkeiten entstanden.
Ich sage das alles nicht als ein außenstehender Besserwisser, sondern als jahrzehntelang organisierter Kommunist. Während ich in der BRD Mitglied der DKP war, gehöre ich hier in der Algarve nicht nur der Portugiesischen Kommunistischen Partei an, sondern bin auch deren Abgeordneter in der Assembleia Municipal, der Stadtverordnetenversammlung von Aljezur.
Ich frage mich als ein aufs engste mit der DDR verbunden gewesener Genosse aus der alten BRD, wie gestandene Funktionäre, darunter einstige KZ-Häftlinge und Zuchthausinsassen mit bitterer Erfahrung, die den Faschisten mutig Paroli geboten hatten, so gravierende Fehlentwicklungen zulassen konnten. Manches dürfte auch damit im Zusammenhang gestanden haben, daß die Tätigkeit in bürokratischen Apparaten der Partei und des Staates für etliche zu einer lebenslangen „Aufgabe“ geworden war. Aus meiner Sicht sollten Funktionsträger nicht länger als ein bis zwei Wahlperioden im Amt bleiben.
Wenn wir Kommunisten der Bevölkerung eine Alternative zum jetzigen System anbieten wollen, darf ein solches Herangehen nicht fehlen. Die neuen gemäßigt linken Bewegungen – in Griechenland und im Portugal benachbarten Spanien – erhielten solchen Wählerzulauf, weil sie auf Transparenz und maximale Einbeziehung der Massen setzten.
Liebe Genossen vom „RotFuchs“! Vielleicht erscheint manches von dem, was ich hier nach dem Maß meiner Kenntnisse aufgeschrieben habe, in Euren Augen recht ungereimt. Aber ich wollte Euch einfach mal mein Herz ausschütten.
Nachricht 965 von 2043