RotFuchs 229 – Februar 2017

Brief aus Peru

Harry Lange

In den vergangenen Wochen hat sich vieles getan. Ich habe mich recht gut eingelebt. Über vieles mache ich mir schon keine Gedanken mehr. Am Anfang fand ich die körperliche Nähe der Menschen in den vollgestopften Bussen im morgendlichen und auch abendlichen Berufsverkehr schon etwas eigenartig. Wenn zwischen die Leute kein Blatt Papier mehr paßt, scheint das aber normal und ist sicherlich eine Sache der Gewöhnung. Genauso geht es mir mit dem Wasserproblem. Es kann schon passieren, daß man früh morgens vor dem Waschbecken steht und den Wasserhahn vergeblich aufdreht. Aber auch das ist mittlerweile für mich zur Normalität geworden. Man wäscht sich eben zu Tageszeiten, zu denen es Wasser gibt.

Seit dem 24. Oktober bin ich in dem Kinderdorf „Yanapay“ (das ist quechua und bedeutet: Hilf mir!). Wir unterstützen die Kinder bei den Hausaufgaben, spielen, singen und basteln mit ihnen. Auch gibt es einen täglichen Zirkel, in dem über wichtige Probleme gesprochen wird. In Yanapay gibt es zwei grundlegende Formen der Beschäftigung mit den Kindern. Zum einen ist es die Werkstattarbeit, in der sich die Kinder mit ihren Fähigkeiten beweisen können. Ich betreue die Werkstatt „Arte“, in der ich mit den Kindern male, zeichne und bastle. Das bedeutet für mich, daß ich für jeden Tag eine neue Idee brauche, welche die Kinder begeistert und die auch mit den wenigen Materialien, die uns zur Verfügung stehen, realisierbar ist. Papier und Stifte sind nicht das Problem. Ich bin fast zwei Wochen nach Holzkugeln herumgerannt und habe dann endlich welche aus Plastik bekommen. Für Ideen bin ich immer dankbar. Der zweite Teil besteht aus „Familienarbeit“. Während sich die Kinder bei der Werkstattarbeit täglich aussuchen können, wohin sie gehen, sind die Familien feste Bestandteile in Yanapay. Ich bin in der Familie „Waira“ (Wind). Wir sitzen in der letzten Stunde zusammen und spielen, singen oder quatschen auch nur miteinander. Es gibt hier nur eine Sache, die wir innerhalb der Familie über bzw. auf die Bühne bekommen müssen: Zum Wochenabschluß gibt es freitags immer eine kleine Show, in der jede der acht Familien ein kleines Programm zu einem bestimmten Thema aufführt. In einer ging es um Persönlichkeiten der Zeitgeschichte, und wir haben uns mit Ghandi beschäftigt. Da die Kinder meinten, daß es eine gewisse äußerliche Ähnlichkeit zwischen mir und Ghandi geben würde, haben sie darauf bestanden, daß ich ihn spiele. Es gab neben der Information aber auch viel Spaß für alle. Meine Kinder nennen mich hier Profe Harry, als Abkürzung für profesor, was Lehrer bedeutet.

Wir sind aber auch mit den Kindern gesellschaftlich aktiv. Zum Internationalen Tag gegen Gewalt gegen Frauen haben wir mit unseren Kindern eine Demo quer durch das Centrum von Cusco organisiert. Es war ein echter Erfolg. Die Polizei hat die Demo für uns abgesichert und einige Straßen gesperrt, was hier nicht selbstverständlich ist.

Am darauffolgenden Vormittag war ich bei einem Projekt, das leukämiekranke Kinder unterstützt. Der Leiter ist einer meiner Spanischlehrer. Es gab auf einem Platz in der Innenstadt ein großes Fest. Meine Aufgabe bestand darin Flyer zu falten und zu verteilen. Die Leute waren interessiert und haben die Flyer nicht gleich weggeworfen. Ich habe auch einige der Kinder kennengelernt. Sie sind so natürlich und lebensfroh, obwohl sie wissen, wie es um sie steht. Das hätte ich mir in meiner Jugend auch nicht träumen lassen, daß ich mal in Peru auf einem Marktplatz stehen würde, um Handzettel zu verteilen. Alles neue Erfahrungen!

In den Vormittagsstunden gehe ich weiterhin in die Sprachschule. Meine Umgebung meint zwar, daß sich mein Spanisch in den letzten Wochen sehr verbessert hat, aber so richtig zufrieden werde ich erst sein, wenn ich mich mit „meinen“ Kindern flüssig unterhalten und sie auch problemlos verstehen kann. Aus diesem Grund bin ich jetzt auch auf Einzelunterricht umgestiegen.

Die Wochenenden nutze ich überwiegend für Ausflüge. Ende Oktober gab es Abenteuer pur, als ich mich mit einer Gruppe in den Regenwald um Puerto Maldonado begeben habe. Wir haben dort zwei Nächte in Zelten am Rio de las Pierdras verbracht. Die Natur ist einmalig, und die Eindrücke werden wohl lange in Erinnerung bleiben. An Tieren haben wir allerdings nicht so viel gesehen. Überwiegend gab es Schmetterlinge zu beobachten. Dafür gab es aber Moskitos zuhauf. Eine Woche lang nervten mich gefühlte 1000 Moskitostiche. Anfang November habe ich mich auf eine ebenfalls besondere Tour begeben. Es ging in die Montañas de siete colores (Berge der sieben Farben). Das Wetter hat mitgespielt, wenn auch die Sonne in den Nachmittagsstunden erbarmungslos gebrannt hat. Laut Ausführungen des Guias haben wir eine Höhe von 5033 Metern bezwungen. Diese Tour ist noch nicht so bekannt. Selbst wenn es ein paar Meter weniger gewesen sein sollten, war es für mich ein neuer Rekord, und für die Strapazen wurde man mit einer einmaligen Aussicht belohnt. Zusätzlich hatten wir auch einen tollen Ausblick auf den schneebedeckten Ausangate mit seinen 6389 Metern. Daß die Luft in diesen Höhen wirklich so dünn ist, habe ich aber erst kurz vor dem Ziel bemerkt. Auf dem letzten Kilometer hat der Körper nicht mehr das getan, was der Geist von ihm verlangte. Es war schon merkwürdig, daß ich meine Beine nur noch im Zeitlupentempo bewegen konnte. Bereut habe ich diese Tour aber auf keinen Fall. Ein Wochenende später war ich in einem Dorf, dessen Name – Andahuaylillas – mehr Buchstaben beinhaltet, als es Straßen hat. Aber die Natur der Umgebung ist faszinierend.

Wir sind momentan eine Truppe aus fünfzehn Freiwilligen, buntgemischt aus allen Teilen der Erde: Spanien, Mexiko, USA, Italien, Belgien und ich als einziger Germane und älterer Herr mittendrin. Schade ist, daß die meisten der Volontäre nur für ein paar Wochen hier sind.

Wettermäßig sah es bis Anfang Dezember richtig toll aus. Wir hatten den „veranito“, den kleinen Sommer, mit Temperaturen bis etwa 24 Grad, leicht bewölktem Himmel und einer leichten Brise – also Sonnenbrandwetter. Diese Phase ist aber endgültig vorbei, und die Regenzeit hat begonnen. Bis zum Mittag geht es so einigermaßen mit wechselnd bewölktem Himmel bei Temperaturen zwischen 15 und 18 Grad. Nachmittags werden aber bis in die Nachtstunden hinein alle Schleusen geöffnet. Das soll wohl bis Anfang März so bleiben. Für Ende März plane ich, den Camino de Inka zu bewältigen. Das wird ebenfalls ein großes Abenteuer werden.