Michael Bries furchtloser Kampf gegen Windmühlenflügel
„Bruch mit dem Leninismus als System“
Am 20. April 2013, mitten in der Krise, die schon länger andauert als jede der drei kapitalistischen Weltwirtschaftskrisen zuvor, hat Michael Brie auf einer Veranstaltung der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Leipzig zum Thema „Der Bruch mit dem Leninismus als System. Sozialismus und Demokratie – eine historische Tragödie“ gesprochen. Es handelt sich um Geschichtsklitterung übelster Art. Bei näherer Betrachtung findet man aber auch „Erhellendes“. Denn offenherzig berichtet Brie gleich eingangs, er sei gebeten worden, über den „Bruch mit dem Stalinismus“ zu sprechen, habe aber darauf bestanden, nunmehr dem Leninismus den Todesstoß zu versetzen: „Dies wäre 1989 innerhalb der damaligen Noch-SED und Noch-Nicht-Partei-des-Demokratischen-Sozialismus unmöglich gewesen. Noch war Lenin ganz anders als Stalin einer derer, auf die sich die Partei im Umbruch positiv bezog, neben Marx und Luxemburg, Bebel und den Liebknechts, Kautsky und Bernstein.“ Das ist einer der wenigen Sätze, denen man nicht widersprechen muß. Denn in dem am 17. Dezember 1989 beschlossenen Statut der SED/PDS – ein Programm gab es ja jahrelang nicht – hieß es noch: „Die Partei stützt sich auf die Traditionen und das theoretische Erbe der deutschen und internationalen Arbeiterbewegung. Ihre Hauptwurzeln liegen in der kommunistischen und sozialdemokratischen Arbeiterbewegung sowie auch in sozialistischen, antifaschistischen, pazifistischen und internationalen linken Traditionen, besonders denen Lenins. Theoretische Grundlage der Partei ist der Marxismus.“
Die Rechten in PDS und Linkspartei betrachteten das schon damals lediglich als taktischen Schachzug, was jeder zu erkennen vermochte, der diese Worte an ihren Taten maß. Sie hatten bei ihrem Idol Gorbatschow gelernt, daß gelegentliche Verbeugungen vor Marx und Lenin durchaus nützlich sind, wenn man die Masse ehrlicher Parteimitglieder am Nasenring durch die Arena zu zerren beabsichtigt.
Nun hält Michael Brie es für dringend geboten, alle Hüllen fallen zu lassen und nicht nur mit Lenin, sondern zugleich auch mit Karl Marx und Rosa Luxemburg abzurechnen. „Eine sozialistische Demokratie ist nur möglich“, betont er, „wenn auch der Sozialismus eine plurale Eigentumsgrundlage erhält. Lebensfähig kann er nur sein, wenn er nicht nur eine freie Assoziation der Individuen, sondern auch eine Assoziation von wirtschaftlichen Unternehmungen ist, die wirtschaftsdemokratisch kontrolliert werden.“ So weit – so gut, könnten harmlose Gemüter meinen. Doch dann folgt der Schlüsselsatz: „Es gibt deshalb kein Zurück zu Marx und Luxemburg, sondern nur ein Vorwärts zu einem Sozialismus oder auch Luxemburgismus 2.0.“
Brie ist offenkundig angesichts der vielgestaltigen Marx-Renaissance unserer Tage zutiefst beunruhigt. Er reagiert auch darauf, daß im Bewußtsein breiterer Bevölkerungsschichten die schamlose Reduzierung der glühenden Revolutionärin Rosa Luxemburg auf „die Freiheit der Andersdenkenden“ wenig eingebracht hat. Denn jeder, der einen Text Rosa Luxemburgs liest, nimmt wahr, mit welch übler Lauge hier Brunnenvergifter am Werke sind.
Ich verzichte darauf, all die Verleumdungen zu rekapitulieren, mit denen Brie – die bekannten „Argumente“ professioneller Antikommunisten aneinanderreihend – Lenin als den eigentlich an der „Entartung des Sozialismus“ Schuldigen diffamiert. Aufschlußreicher ist, wie er Lorenz von Stein zum verehrungswürdigen Begründer des „Sozialstaatsgedankens“ hochstilisiert. Dieser Zeitgenosse von Karl Marx, den die bürgerliche Soziologie zu Recht als einen ihrer Ahnen feiert, war ein scharfsichtiger Analytiker der sich zuspitzenden „sozialen Frage“ und der bereits mit dem utopischen Kommunismus heraufziehenden Gefahr. Doch er war Zeit seines Lebens ein entschiedener Verteidiger der „besitzenden Klassen“. Brie führt aus: „Als frühe und dauerhafte intellektuelle Protagonisten standen sich der außerhalb von Spezialistenkreisen fast völlig vergessene Lorenz von Stein und Karl Marx gegenüber. Lorenz von Stein formulierte das Konzept der sozialen Demokratie, das er später unter dem Eindruck der niedergeschlagenen demokratischen Revolution von 1848/49 als Projekt eines ‚sozialen Königtums’ reartikulierte.“
Friedrich Engels hat bereits 1845 klargestellt, daß der deutsche „absolute Sozialismus“, der nicht zuletzt aus einer so „unsauberen Quelle“ wie der des Herrn Stein schöpfe, erschrecklich arm sei: „Etwas ‚Menschentum’, wie man das Ding neuerlich tituliert, etwas ‚Realisierung’ dieses Menschentums oder vielmehr Ungetüms, etwas Weniges über das Eigentum aus Proudhon – dritte oder vierte Hand –, etwas Proletariatsjammer, Organisation der Arbeit, die Vereinsmisere zur Hebung der niederen Volksklassen, nebst einer grenzenlosen Unwissenheit über die politische Ökonomie und die wirkliche Gesellschaft – das ist die ganze Geschichte, die dazu durch die theoretische Unparteilichkeit, die ‚absolute Ruhe des Gedankens’ den letzten Tropfen Blut, die letzte Spur von Energie und Spannkraft verliert. Und mit dieser Langeweile will man Deutschland revolutionieren, das Proletariat in Bewegung setzen, die Massen denken und handeln machen?“ (MEW, 2/608)
Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen. Doch wir sollten nicht vergessen, daß Lorenz von Stein und seine Schüler durchaus auch Spuren im Denken und Handeln Otto von Bismarcks hinterlassen haben. Dieser Reaktionär, der wie Lorenz von Stein ein kluger Mann war, betonte, „sozialdemokratischer Verrücktheit“ könne man nur Herr werden, wenn man gezielt etwas Dampf aus dem Kessel nehme. So war er nicht nur der Vater des Sozialistengesetzes, sondern auch der Begründer der Sozialversicherung. In seinen „Gedanken und Erinnerungen“ heißt es: „Die größere Besonnenheit der intelligenten Classen mag immerhin den materiellen Untergrund der Erhaltung des Besitzes haben; der andere des Strebens nach Erwerb ist nicht weniger berechtigt, aber für die Sicherheit und Fortbildung des Staates ist das Übergewicht derer, die den Besitz vertreten, das nützlichere. … Das begehrliche Element hat das auf die Dauer durchschlagende Uebergewicht der größeren Masse. Es ist im Interesse dieser Masse selbst zu wünschen, daß dieser Durchschlag ohne gefährliche Beschleunigung und ohne Zertrümmerung des Staatswesens erfolge. Geschieht das letztre dennoch, so wird der geschichtliche Kreislauf immer in verhältnismäßig kurzer Zeit zur Dictatur, zur Gewaltherrschaft, zum Absolutismus zurückführen, weil die Massen schließlich dem Ordnungsbedürfnis unterliegen, und wenn sie es a priori nicht erkennen, so sehn sie es infolge mannigfacher Argumente ad hominem schließlich immer wieder ein und erkaufen die Ordnung von Dictatur und Cäsarismus durch bereitwilliges Aufopfern auch des berechtigten und festzuhaltenden Maßes an Freiheit, das europäische staatliche Gesellschaften vertragen, ohne zu erkranken.“
Nun hat sich Michael Brie in Leipzig allerdings nicht auf Bismarck berufen. Dabei hat dieser im Kern der Sache doch nichts anderes zum Ausdruck gebracht als unser Leninismus-Vertilger jetzt.
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