Dichtung und Wahrheit über das Stralauer Durchgangsheim
CDU will von BRD-Übeln ablenken
Sobald auf Mißbrauchsfälle in westdeutschen, insbesondere katholischen Heimen, aufmerksam gemacht wird, führt man „Fälle“ aus der DDR ins Feld, wo angeblich alles viel schlimmer gewesen sein soll. Derzeit geht es um das ehemalige Durchgangsheim der DDR-Jugendhilfe für die vorübergehende Aufnahme von Kindern und Jugendlichen auf der Halbinsel Stralau.
Sicher war der Aufenthalt in einem solchen Heim für die Betroffenen nicht gerade ein Zuckerschlecken. Doch wenn die Stralauer Erzieher die ihnen unterstellten Untaten wirklich begangen hätten, wären sie zu DDR-Zeiten bestraft oder zumindest entlassen worden. Gefragt werden muß natürlich auch, warum die Senatsverwaltung für Jugend und Familie 1990 aus dem Stralauer Durchgangsheim 25 pädagogische Kräfte übernommen hat. Sie waren anschließend zum Teil in vergleichbaren Westberliner Einrichtungen beschäftigt.
Im „Bericht über ein Konzept des Abgeordnetenhauses von Berlin zur Zusammenführung der Notdienste“ im Jahre 1992 wurde festgestellt: „Das früher als geschlossene Einrichtung geführte Durchgangsheim hatte die Aufgabe, aufgegriffene und polizeilich zugeführte Minderjährige ab dem 10. Lebensjahr aufzunehmen und an die bisherigen Wohnsitze zurückzuführen.“
Das Gebäude in der heutigen Straße Alt-Stralau 34 entstand ab 1891 und wurde am 1. April 1894 als Schule eingeweiht. Seit 1920 hatte sie acht Klassenstufen. Das Haus wurde 1943 zu einem Lazarett umfunktioniert.
Nach dem Zweiten Weltkrieg diente das beschädigte Gebäude nicht mehr als Schule. 1951 wurde hier ein Hauptpflegeheim für Mädchen eingerichtet.
Zu Beginn der 70er Jahre entstand an gleicher Stelle das „Durchgangsheim für Kinder und Jugendliche Alt-Stralau“. Nach Darstellung seines früheren Direktors war es „ein Heim der Jugendhilfe und hatte umfangreiche sozialpädagogische Aufgaben zu erfüllen“.
Dort wurden Kinder und Jugendliche im Alter von 11 bis 18 Jahren aufgenommen, die keinen festen Wohnsitz in Berlin hatten. Obdachlosigkeit wurde in der DDR nicht zugelassen. Man wies aber auch schwererziehbare, straffällig gewordene oder kriminell gefährdete Jugendliche ein. Zu den Heimbewohnern zählten überdies verhaltensgestörte Kinder. Das Haus hatte die Funktion, solche Kinder und Jugendlichen wieder ins Elternhaus oder jenes Jugendhilfeheim zurückzuführen, in dem sie vorher untergebracht waren. Aus den vorhandenen Dokumenten geht hervor, daß sich auch „elterngelöste“ Kinder im Heim befanden. Dieser zynisch klingende Begriff betraf Eltern, denen das Sorgerecht entzogen worden war. Ihre Erziehungsberechtigten hatten die Kinder mißhandelt oder verwahrlosen lassen. Schließlich befanden sich in Stralau außer verhaltensgestörten auch solche Heranwachsenden, deren Eltern wegen krimineller oder staatsfeindlicher Delikte inhaftiert worden waren. In etlichen Fällen hatten sie ihre Kinder bei der Flucht in den Westen einfach zurückgelassen.
Über jene, welche direkt aus dem Durchgangsheim entlassen wurden, sagte der von 1980 bis 1986 für die Einrichtung zuständige Arzt in einem Interview: „Wenn sie das Heim verließen, bekamen sie eine Ausbildungsstelle, eine Grundausstattung an Wäsche und Mobiliar für eine Wohnung, deren Miete sie für einen bestimmten Zeitraum nicht bezahlen mußten.“ Der Mediziner fügte hinzu: „Vertreten waren alle Altersgruppen. Die allein zurückgelassenen Kleinstkinder mußten erst einmal gesundgepflegt werden. Fast jedes Kind, das neu hinzukam, war erkrankt, mißhandelt worden oder befand sich in verwahrlostem Zustand.“
Zum Haus I in Alt-Stralau 34 kam noch eine Außenstelle hinzu, die eher Internatscharakter trug. Hier waren, betreut von Pädagogen, vor allem solche Jugendliche untergebracht, die bereits eine Lehrstelle hatten und wieder in das normale Leben eingegliedert werden sollten. Sie wurden zu produktiven Tätigkeiten herangezogen. In dieser Zeit gab es an den Polytechnischen Oberschulen der DDR für alle Schüler Werkunterricht und einen Unterrichtstag in der Produktion.
Der erwähnte Arzt berichtete, daß man im Heim die Kinder wieder zu integrieren bemüht gewesen sei, und zwar durch Schule, Ausbildung und zeitweiligen Aufenthalt in einem Ferienheim. Die Kinder und Jugendlichen hatten Ausgang mit Erziehern.
Das Durchgangsheim war finanziell abgesichert und wurde materiell gut versorgt. Das galt auch für die Verpflegung. Es war ausreichend Küchenpersonal vorhanden, so daß für benachbarte Betriebe zusätzlich Abonnementsessen gekocht werden konnten, z. B. eine geschützte Werkstatt für Behinderte in Stralau. Die Zahl der Mitarbeiter des Heimes war relativ hoch. Zu den Angestellten gehörten bis 1990 auch zwei Krankenschwestern. Regelmäßig hielten ein Allgemeinmediziner, ein Hautarzt und ein Psychologe Sprechstunden ab.
Bei dem Durchgangsheim handelte es sich um eine gesicherte Einrichtung. Im Pförtnerhaus taten Volkspolizisten Dienst, wie das auch in zahlreichen Produktionsbetrieben und anderen Einrichtungen der DDR der Fall war. Da Gewaltausbrüche von Heiminsassen, vor denen sich besonders junge Erzieher fürchteten, vorkamen, gab es auch vergitterte Räume.
1991 wurde das Durchgangsheim in einen Jugend-Notdienst umgewandelt, der 1992 nach Alt-Stralau 50 umzog. Dort befand sich später eine Zweigstelle des Kinder-Notdienstes. Von März 1992 bis Juli 1996 wurde die Einrichtung teilweise als Übernachtungsmöglichkeit für obdach- und mittellose Jugendliche genutzt.
Angesichts des geschilderten Sachverhalts erscheint das forcierte Verlangen von CDU-Kommunalpolitikern, an dem Gebäude auf der Halbinsel Stralau eine „Opfer“-Gedenktafel anzubringen, als geradezu absurd.
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