RotFuchs 235 – August 2017

Chile: Die Solidarität geht weiter

RotFuchs-Redaktion

Millaray Rovira / Foto: Wilfried Glienke

Millaray Rovira, eine seinerzeit in der DDR aufgenomme­ne Emigrantin aus Chile und Studentin an der Berliner Humboldt-Universität, war so, wie man sich eine echte Lateinamerikanerin vorstellt, voller Temperament, aktiv, sehr musikliebend. Ohne Gitarre in den Händen fühlte sie sich „irgendwie unvollständig“. Doch Millaray war auch ein ernsthaftes, wißbegieriges junges Mädchen, das weiß, was es will, und mit ganzem Herzen dafür eintrat, daß in seiner Heimat eines Tages wieder eine bessere Welt aufgebaut wird. Millaray erzählte der DDR-Illustrier­ten „Für Dich“1977, was sie damals bewegte.

Seit ich die Liste der verschleppten chilenischen Patrioten gelesen habe, geht sie mir nicht mehr aus dem Sinn, Namen über Namen stehen darauf – Tausende Namen von Menschen unterschiedlichster Berufe und politischer Anschauungen, von Männern, Frauen, jungen und alten, sogar von Schwangeren und Müttern mit kleinen Kindern. Alle diese Menschen sind verschleppt und eingekerkert. Auch Jorge Munoz, der Ehe­mann von Gladys Marin. Er war es, der mich für den Kommunistischen Jugendver­band gewann. Wie gerne erinnere ich mich an diesen so vielbeschäftigten und fröhli­chen Funktionär der Kommunistischen Partei, der, wenn er mit meinen Eltern etwas zu beraten hatte, stets ein wenig Zeit für eine Unterhaltung mit mir fand.

14 war ich damals, aber nie kehrte er den Erwachsenen heraus. Zwar älter und erfah­rener, sprach er dennoch immer von Freund zu Freund.

Nun ist er verschollen. Jorge, der Vater von zwei Jungen, als wenn es ihn nie gegeben hätte. Wie auch Victor Diaz, der vor dem Putsch stellvertretender Generalsekretär der KP Chiles war. Das ist die immer mehr geübte jüngste Praxis der Junta, politische Gegner heimlich zu verhaften und dann verschwinden zu lassen. Sie tut es auch aus Furcht vor den weltweiten Protesten gegen ihre Unmenschlichkeit. Die Junta meint, so brauche sie keine Auskunft zu geben über Verbleib und Gesundheitszustand der Gefangenen, so könne man ungestraft foltern und morden. Doch ich weiß, sie hat die Rechnung ohne die aufrechten Menschen in aller Welt gemacht. Auch die DDR-Bevöl­kerung fordert immer eindringlicher Rechenschaft: Wo sind die Verschleppten? Wir chilenischen Emigranten wollen bei diesen Aktionen für die Verschleppten an der Spitze stehen. Auch ich. Als Mitglied einer Folkloregruppe habe ich zum Beispiel gute Möglichkeiten, für die Solidarität zu wirken. „Basta“ nannten wir – das sind fünf Jugendliche aus Chile, Venezuela, Costa Rica – unsere Gruppe. Das bedeutet so viel wie Schluß. Schluß mit dem Faschismus, dem Elend, der Ausbeutung in den imperia­listischen Staaten, Schluß mit Terror, Folter, Mord! Schluß mit den heimlichen Verhaf­tungen! Das ist unser Programm. In diesem Sinn studieren wir einmal in der Woche unsere Lieder ein. in diesem Sinn singen und spielen wir drei-, viermal und manchmal auch öfter im Monat auf Solidaritätsveranstaltungen.

Und wir kommen an mit unserem Programm, wie man im Deutschen sagt. Ich erinnere mich an einen Auftritt, der etwas unglücklich in eine Tanz- und Beatveranstaltung ein­gebettet war. Also ich hatte so meine Bedenken. Doch die meisten jungen Leute bildeten schnell einen Halbkreis um uns und hörten sich unser Programm aufmerk­sam und mehr und mehr mitgehend an. Danach – ich wollte gerade meine Gitarre einpacken – kam eine junge Frau zu mir. Ich kannte sie nicht, weiß bis heute nicht ihren Namen. Sie war sehr bewegt, umarmte mich und sagte: „Wir sind an eurer Seite!“ Dann schenkte sie mir ihren Ring. Ich bewahre ihn auf als Erinnerung an Millionen mir unbekannte Menschen in der DDR, die mit uns gegen den Faschismus kämpfen.

Bei den Bürgern der DDR ist Solidarität fest verwurzelt. Das habe ich während meines dreijährigen Aufenthalts hier täglich gespürt. Als ich in der DDR ankam, hatte ich Schweres hinter mir. Nach dem blutigen Putsch am 11. September 1973 mußte ich mich mehrere Tage lang in einer Garage verstecken. Von meinen Eltern, Mitgliedern der Kommunistischen Partei, wußte ich nichts. Ich dachte, sie seien tot. Doch zwei Tage später traf ich sie in einem Haus, in dem auch ich Aufnahme gefunden hatte. Das war der bewegendste Augenblick meines Lebens. Dann folgte die aufreibende Zeit der Verfolgung. Jeden Tag in einem anderen Haus übernachten, die ständige Angst vor Haussuchungen … Dennoch wollte ich in Chile bleiben, um im Land den Faschismus zu bekämpfen. Aber der Kommunistische Jugendverband bestand da­rauf, daß ich mit anderen ins Ausland ging.

Schwer war die erste Zeit, sehr schwer. Kein Wort Deutsch sprach ich, und die fremde Sprache flößte mir so etwas wie Angst ein. Ich hatte den Eindruck, daß die Menschen fortwährend sehr ernsthaft diskutierten oder verärgert waren. Nach und nach merkte ich jedoch, daß das nur am unterschiedlichen Klang der deutschen und der spani­schen Sprache liegt. Als ich hier Freundschaften schloß, konnte ich feststellen, daß die Menschen zwar hart erscheinen, aber im Grunde gefühlvoll, ja sogar empfindsam sind und sehr, sehr hilfsbereit. Überhaupt imponieren mir die menschlichen Qualitä­ten der DDR-Bürger sehr. Besonders ihr Kollektivgeist. Und was mich jeden Tag aufs neue bewegt, das ist die Liebe zu den Kindern. Sie ist in jedem Menschen, ob Mann oder Frau, ob jung oder alt.

Gegenseitige Hilfe ist für die Jugendlichen der DDR eine ganz natürliche alltägliche Sache. Als ich nach dem Deutschlehrgang an der Erweiterten Oberschule „Immanuel Kant“ in Berlin zu lernen begann, hatte ich viele Schwierigkeiten zu überwinden. Groß war der Niveauunterschied zwischen den Unterrichtsprogrammen in Chile und in der DDR. Viel, viel mehr wurde hier verlangt. Wie sollte ich das schaffen? Doch da waren die Lehrer, zu denen ich mit jeder Frage kommen konnte, da waren Freunde in der Klasse, wie Barbara Usczeck, die täglich mit mir lernte. Ohne ihre selbstlose Unter­stützung hätte ich mein Abitur nie mit der Note 2 bestanden.

Wenn man so mehrere Jahre in einem anderen Land lebt, fällt einem allerhand Bemer­kenswertes auf, auch im Alltäglichen. Besonders aufgefallen ist mir auch das ganz andere Verhalten der jungen Männer. In Chile – so wie in ganz Lateinamerika – gibt es den „machismo“, eine Art Überbewertung des Mannes. So sehr sich ein Paar auch lieben mag, dem Mann ist es unangenehm, seine Aufmerksamkeit und Zuneigung dem Mädchen gegenüber offen zu zeigen. Er versucht, sich nicht anmerken zu lassen, daß er „nicht ohne sie leben kann“. Der junge Mann in der DDR schämt sich nicht, seine Liebe offen zu zeigen, im Gegenteil. Die Aufmerksamkeit, die Bemühungen um das Mädchen sind wunderbar.

Natürlich ist das Leben in der DDR ganz anders als in kapitalistischen Ländern, als es auch in meiner Heimat Chile war. Es gibt hier Dinge, die die Jugend nie erlebt hat, die sie nur noch aus Zeitungen kennt. Zum Beispiel die Angst vor der steten Teuerung des Lebens, die Sorge, krank zu werden, wegen der hohen Kosten für Arzt, Kranken­haus, Medikamente. Ein zerlumptes Kind, das mitten im Winter um Almosen bettelt – in der DDR unvorstellbar. Natürlich formt das sozialistische Milieu den Menschen. Deshalb lebt die Jugend der DDR mit dem Blick in die Zukunft, indem sie ihr Heute mitgestaltet. Dennoch vergißt sie darüber nicht jene Völker, die noch in der Nacht des Kapitalismus leben oder gerade erst dabei sind, ein neues Leben aufzubauen. Das Lied „Die Solidarität geht weiter“, das auch ich schon oft gesungen habe, erzählt davon.