RotFuchs 225 – Oktober 2016

Christentum und Sozialismus –
ein unaufhebbarer Widerspruch?

Theodor Weißenborn

Zeichnung: Arno Fleischer

Ein nahezu vergessener Schriftsteller namens Montini, der in Rom lebte und Enzykliken schrieb (Paul VI.), erklärte gelegentlich einer Reise nach Kolumbien den Hungernden in Bogotá, Revolutionen seien nicht mit dem Geiste des Christentums vereinbar. Das war, meine ich, eine sehr richtige Feststellung, die ich aus anderer Richtung wie folgt stützen möchte: Das Christentum, das Montini im Sinn hatte (nicht das des Nazareners!) ist nicht mit dem Geist der Revolution vereinbar, denn so, wie es von den Amtskirchen repräsentiert und zur ideologischen Absicherung von Herrschaftsansprüchen mißbraucht wird, steht es notwendig im Pakt mit der kapitalistischen Gesellschaft und mit faschistischen Regimen (siehe hierzu Karlheinz Deschner: „Kirche und Faschismus“). Diese Tatsache schmälert nicht die hervor­ragenden Leistungen einzelner Christen (Camilo Torres, Ivan Illich, Leonardo Boff und anderer), die es im Gegenteil gegen die offizielle Politik der Ekklesia (Amtskirche) in Schutz zu nehmen gilt. Peinlich wird die Sache, wenn kirchliche Kreise die persönlichen Verdienste dieser Männer als Beweis für den Fortschritt der Kirche hinzustellen versuchen.

Die Kirche hatte fast 2000 Jahre Zeit und hätte aufgrund ihrer politischen Macht längst die Gesellschaft in ihren Einflußgebieten sozialisieren können, wenn es ihr dazu nicht sowohl am Willen wie auch am Konzept gefehlt hätte. Aber überaus und über Gebühr beschäftigt mit gruppen-, schichten- und klassenweiser Anpassungs­therapie und privater Seelenmassage und dem nicht einmal psychologisch-rational, sondern mythisch-mystisch verstandenen Seelenheil des einzelnen, hat sie jahrhundertelang versäumt, die unwürdigen gesellschaftlichen Konditionen zu analysieren, die den einzelnen auch im moralischen Sinne unfrei machen, weil sie seine Bewußtwerdung verhindern, und hat die Erarbeitung gesellschaftlicher Gegenmodelle den ach so gottlosen Marxisten überlassen. Rundheraus: Ich halte Sozialismus und Christentum zwar nicht von der Idee her, aber de facto für unvereinbar. Hier Dynamik, Veränderung, Fortschritt – dort statisches Beharren auf einmal erlangten Machtpositionen, Stabilisierung kapitalistisch-feudalistischer Herrschaftssysteme, Unterstützung korrupter, faschistischer oder faschistoider Regime, Verhinderung von Sozialreformen, Wissenschaftsfeindlichkeit und als makabre Pointe die Rehabilitierung Galileis fast zum selben Zeitpunkt, da Paul VI. seinen Anhängern den Gebrauch empfängnisverhütender Mittel verbot. Was soll man dazu noch sagen?

Hier könnte man einwenden, ich setzte die Ideen des Christentums, wie sie im Neuen Testament (insbesondere in der Bergpredigt) formuliert sind, kurzschlüssig gleich mit den Lehren der Amtskirche. Ich stelle daher klar: Was dem Sozialismus entgegen­steht, das sind nicht der menschenfreundliche Geist des Nazareners, nicht die Lehre Jesu, der Nächstenliebe und Barmherzigkeit predigte, sondern das, was die Kirche verräterischerweise aus dieser jesuanischen Lehre gemacht hat (von der Recht­fertigung der Sklaverei durch den Apostel Paulus über die Verbrennung von Ketzern und Hexen bis hin zur Ablehnung der Demokratie, die einer ihrer Päpste als „moderne Geisteskrankheit“ bezeichnete, und zur Nichtratifizierung der Charta der Menschenrechte)!

Daneben gilt: „Die Wahrheit ist immer konkret“ (Lenin, bezugnehmend auf Hegel), und wahre Ideen, ob sie nun im Neuen Testament oder bei Hegel, Marx oder Lenin formuliert sind, existieren nicht für sich, sondern für den Menschen jetzt und hier, d. h. sie bedürfen der Verwirklichung am genauen historischen Ort, in genau dieser unserer konkreten gesellschaftlichen Lage. Von der Bergpredigt bis zur Vergesell­schaftung der Produktionsmittel ist es so weit wie von der Theorie zur Praxis; das eine ist nichts wert ohne das andere, und wenn jemand aufgrund religiöser Erfahrung (was immer das sein mag) Nächstenliebe in soziale Tat umsetzt und somit Christentum und Sozialismus als Einheit in seiner Person verkörpert, so soll mir das recht sein, und ich nenne es ein hervorragendes Beispiel, dem die Ekklesia nacheifern sollte.

Allerdings möchte ich wetten, daß die Arbeiterpriester in Frankreich und Spanien oder anderswo nicht nur das Neue Testament, sondern vor allem neuere und differenziertere Schriften gelesen haben und sich eher auf alles andere als irgendwelche vagen und sentimentalen Anmutungserlebnisse berufen. Von solch politischer Konsequenz mag die Ekklesia offiziell nichts annehmen; sie duldet sie bestenfalls, solange es ihr und ihrem dogmatisch angestrengten Wahrheitsmonopol nicht an den Kragen geht. Sie – die „Infame“, wie Voltaire sie genannt hat – hat die Caritas institutionalisiert anstatt sie überflüssig zu machen, weil sie die gesellschaftlichen Grundübel nicht beseitigen, die bestehenden Macht- und Besitzverhältnisse nicht ändern will; sie gibt dem Notleidenden Almosen, um ihm ungestört die Rechte vorenthalten zu können, die ihm zustehen; sie verleugnet die Ideen des Nazareners, in dessen Geist sie zu handeln vorgibt, und würde ihn kreuzigen, sobald er wiederkäme. Man lese Dostojewskis „Großinquisitor“ und anschließend eine beliebige Ausgabe des „L’Osservatore Romano“! Man wird Dostojewski zustimmen. Und noch eins: Mahatma Gandhi hat gesagt: „Den Hungernden erscheint Gott in der Gestalt des Brotes.“ Ich glaube kaum, daß er damit die Eucharistie gemeint hat, denn eine Alternative zu profanem Brot wäre tatsächlich Opium.

Fazit: Wenn die Kirche sich dazu durchringen könnte, sich von ihrem überflüssigen Besitz zu trennen und an die Hungernden in aller Welt statt Bibeln Brot zu verteilen, so könnte ihre Lehre vielleicht überzeugen. Denn ob es ihr paßt oder nicht – gemessen wird sie nicht an ihren Worten, sondern allemal an ihren Taten!