Das Anrüchige an der Riester-Rente
Das gesetzliche Sozialsystem, insbesondere die Rentenversicherung, steht seit der „Erfindung“ des Neoliberalismus im Trommelfeuer von „Reformbemühungen“ bundesdeutscher Regierungen. Dafür bedienen sich dessen Wortführer im wesentlichen zweier Rechtfertigungsstrategien: Die eine beruft sich auf den außer Kontrolle geratenden „demographischen Faktor“. Von den Verfechtern der anderen wird suggeriert, der Erhalt des Sozialstaates in seiner bisherigen Form sei zu teuer. Die zunehmende Akkumulation auf Grund wachsender Produktivität zur Verfügung stehender Mittel führt diese Behauptungen jedoch ad absurdum. Dennoch geht die soziale Demontage weiter.
Im Zuge der Rentenreform 2001 wurde die sogenannte Riester-Rente eingeführt. Sie ist neben Kapitallebensversicherungen und privaten Rentenversicherungen eine staatlich gestützte private „Altersvorsorge“. Ursprünglich sollte sie die „Rentenlücke“, die durch Absenkung des Nettorentenniveaus von 70 % (2001) auf 43 % (2030) entsteht, schließen. Rund 15,4 Millionen BRD-Bürger haben inzwischen den Vertrag über eine Riester-Rente abgeschlossen. Sie kostete die Steuerzahler bis Juni 2012 insgesamt 8,7 Mrd. Euro. Bis 2015 werden weitere 17,3 Mrd. Euro fällig. Diese enormen, der Finanzindustrie zufließenden Summen entzieht man der gesetzlichen Rentenversicherung.
Ende vergangenen Jahres nahm die „Berliner Zeitung“ unter der Schlagzeile „Abzocke bei der Altersversorgung“ diesen Bereich der Profiterwirtschaftung genauer unter die Lupe. Demnach gehen Bürgern, die sich auf private Altersvorsorgeverträge mit „Finanz- und Versicherungsdienstleistern“ eingelassen haben, infolge falscher oder schlechter Beratung jährlich bis zu 17 Mrd. Euro verloren. Insbesondere wurden geprellte Kunden nicht oder nicht ausreichend über Risiken, Ertragsaussichten, Zinssätze und Gebühren aufgeklärt. Allein im Bereich der Kapitallebensversicherungen und privaten Rentenversicherungen entstehen ihnen Verluste in Höhe von jährlich 16 Mrd. Euro, weil sie ihre Verträge vorzeitig kündigen oder kündigen müssen.
Der Bamberger Finanzwissenschaftler Andreas Oehler führt dies auf irritierende und lückenhafte Verbraucherberatung bei Vertragsabschluß zurück. Außerdem belasten hohe Kosten für Vertrieb, Provision und Verwaltung die Rendite. Die Kündigungsquote bei Alterssicherungsverträgen mit Laufzeiten von 20 bis 30 Jahren liegt zwischen 55 und 75 %.
Selbst oder auch gerade Riester-Rentenverträge weisen häufig gravierende Mängel wie zu hohe Abschlußkosten und Gebühren oder ein kompliziertes Zulageverfahren auf. Bei mehr als 5000 „Riester-Produkten“ hat niemand mehr eine Übersicht, welche davon für die „Kunden“ gut oder schlecht sind. Durch die Defizite der Riester-Verträge entstehen jährlich Schäden von etwa einer Milliarde Euro. Der Gesamtverlust für die deutschen Verbraucher soll sich auf 50 Mrd. Euro jährlich belaufen. Nicole Maisch von den Grünen stellte deshalb fest: „Die kalkulierten Schäden für die Sparer sind immens, weil Schwarz-Gelb weiter interessengeleitete Geschenke an die Finanzbranche verteilt und vor einer effizienten, verbraucherorientierten Regulierung aller Produkte zurückschreckt.“ Sicherlich hat sie mit ihrer Beurteilung recht. Sie schießt jedoch insofern ein Eigentor, als ja die Grünen in gemeinsamer Regierungsverantwortung mit Schröders SPD seinerzeit die Riester-Rente als neue, staatlich subventionierte Profitquelle für die Versicherungs- und Finanzbranche erfunden haben.
Es gibt jedoch noch eine zweite verheerende Seite der Medaille: Private Altersvorsorgen basieren auf dem Kapitaldeckungsprinzip. Mit anderen Worten: Sie sind den Risiken des Kapitalmarktes ausgesetzt, weil das angesparte Geld der Kunden in den Finanz- und Kapitalkreislauf investiert wird. Insbesondere während der Weltfinanzkrise 2007 bis 2009 wurde deutlich, daß solche privaten „Altersvorsorgeprodukte“ untergehen und zum Totalverlust für die Sparer führen können. In den USA haben Hunderttausende Menschen ihre für das Alter bei Banken, Versicherungskonzernen, Hedgefonds oder Pensionsfonds angelegten Gelder ganz oder teilweise eingebüßt. Aber auch deutsche Produkte dieser Art sind – wie bei der Postbank – „baden gegangen“. Deren Altersvorsorgekonto geriet in den Strudel, den stark fallende Aktienkurse und gesunkene Kapitalmarktzinsen erzeugt hatten – ähnlich wie manche Riester-Fondssparpläne. Der Untergang der US-Bank Lehman Brothers im September 2008 betraf auch deutsche Kunden, die diesbezüglich eine solide Geldanlage gesucht hatten.
Private „Altersvorsorge“ in den Händen der Versicherungs- und Finanzkonzerne mit oder ohne staatliche Subventionierung ist demnach kein sicheres Polster für ein geruhsames Seniorendasein, haben doch die Versicherer ausschließlich den Profit, nicht aber die Interessen der Sparer im Auge.
Staatlich subventionierte private Rentenversicherungsformen sind weder Ersatz noch Alternative zur gesetzlichen Rentenversicherung. Diese ist eine auf dem „Generationenvertrag“ basierende Sozialversicherung, die nach dem Umlageverfahren funktioniert. Die eingezahlten Beiträge werden unmittelbar zur Rentenfinanzierung herangezogen, wodurch das System den Markt- und Spekulationsrisiken weniger ausgesetzt ist.
Die Merkel-Regierung hat aus der Finanzkrise nichts gelernt. Im Juni 2012 sorgte sie für das Gesetz zur „Neuausrichtung der Pflegeversicherung“ – ein weiteres staatlich subventioniertes Geschäftsfeld. Danach erhalten gesetzlich Pflegeversicherte eine jährliche Zulage von 60 Euro, wenn sie überdies auch noch eine freiwillige private Pflege-Zusatzversicherung abschließen. Der Mindestbeitrag soll 120 Euro im Monat betragen. Die Regierung stellte zur Förderung dieses Projekts für 2013 etwa 90 Millionen Euro bereit. Die Gelder wären freilich segensreicher zur Verbesserung der Pflegesituation einzusetzen. Arbeitsministerin von der Leyen (CDU) hat mit der von ihr angestoßenen Zuschußrente ähnliches vor, was wie Gnadenbrot auf dem Ponyhof klingt.
Die Stärkung der staatlichen Rentenversicherung, in die jeder einzahlen kann und muß, ist deshalb von großer Bedeutung. Die Aushöhlung dieses gesetzlichen Systems bei gleichzeitiger Absenkung der Renten in den Jahren 2001 und 2007 ist unbedingt rückgängig zu machen, um den schleichenden Prozeß zu größerer Altersarmut aufzuhalten.
Nachricht 1967 von 2043