Ein „Nationalfeiertag“, bei dem es nichts zu feiern gibt
Das Dauerspektakel um den 17. Juni
Willy Brandt bemerkte einmal: „Wer die Geschichte erst 1989 oder kurz zuvor beginnen läßt, kann nicht anders als gedanklich zu kurz springen.“ Das gilt auch für das offizielle Erinnern der BRD an den 17. Juni 1953. Von 1954 bis 1990 wurde jenes Tages, der seine Spuren in der DDR hinterließ, mit Reden im Bundestag gedacht. Dabei trug sich das Ereignis, um das es ging, in einem anderen Staat zu, dessen Souveränität durch die BRD spätestens nach dem Grundlagenvertrag von 1972 und der gleichzeitigen Aufnahme beider deutscher Staaten in die UNO 1973 zu achten war. Es galt das völkerrechtliche Verbot der Einmischung in innere Angelegenheiten. Wie war dieser Rummel jahrzehntelang möglich? Warum organisierte die BRD staatlich verordnete Gedenkfeiern am 17. Juni, die zu vorgestanzten Ritualen wurden?
Das Gesetz, das dieses Datum zum „Nationalfeiertag des deutschen Volkes“ erhob, entsprang vor allem einer Idee der SPD und Willy Brandts. Es trat bereits am 4. August 1953 in Kraft.
Mit dem rasch, gegen den Protest der KPD Max Reimanns verordneten Feiertag entstand ein bis heute andauernder Konflikt. Die SPD betrachtete die „Wiedervereinigung“ als oberste Priorität und verwendete ihre Interpretation des 17. Juni als politische Waffe gegen Adenauer. Die CDU deutete den 17. Juni als Bestätigung ihrer Politik der Westintegration. Die unterschiedlichen Ausdeutungen spiegelten sich auch in den Bundestags-Gedenkreden wider. In den Jahren von 1954 bis 1967/68 waren sie vor allem Ausdruck des Kalten Krieges. Sie folgten der US-Konzeption des „Zurückrollens des Kommunismus“, in der für die DDR keine Zukunft vorgesehen war.
Obgleich es in jeder Rede Nuancen gab, darf wohl ein Satz des Historikers Theodor Schieder, der 1964 die Laudatio auf die „Helden des 17. Juni“ hielt, als roter Faden solcher Auftritte in den ersten zehn Jahren nach den Ereignissen gelten. Er sagte: „Es muß dabei bleiben: Die deutsche Teilung hat keine Wahrheit in der deutschen Geschichte und in der Geschichte Europas, sie ist eine von außen auferlegte Last. Sie darf sich daher auch keine Wahrheit durch Gewohnheit, Nachlässigkeit, durch Anpassung an äußeren Zwang oder durch Resignation erborgen.“ Schieder zufolge widersprach die Existenz der DDR also der „historischen Wahrheit“. Als er diese Rede hielt, war die Losung von Brandt und Bahr „Wandel durch Annäherung“ schon in die Welt gesetzt. Nach der großen Koalition kam die Brandt-Regierung zustande. Die friedliche Koexistenz zwischen beiden deutschen Staaten wurde auf die Tagesordnung der Geschichte gesetzt.
Mit der Ära Brandt begann eine neue Phase der Wahrnehmung des 17. Juni. Die Friedenssicherung hatte Vorrang vor der Forderung nach staatlicher Einheit. 1968, am 15. Jahrestag des „Volksaufstandes“, fand kein Festakt statt. Am 17. Juni 1969 trat Walter Scheel dafür ein, den „staatlichen“ oder „quasi-staatlichen Charakter“ der DDR anzuerkennen.
1973 gab es erneut keine Gedenkveranstaltung. 1974 konnten sich Regierung und Opposition über die Gestaltung nicht einigen, und auch in den Folgejahren fielen die Reden aus unterschiedlichen Gründen wiederholt ins Waser. Der Streit, ob und wie die Gedenkveranstaltungen weitergeführt werden sollten, spitzte sich zu. Das widerspiegelte sich auch in den Reden von Wolfgang Mischnik (1975) und Helmut Schmidt (1977). Schmidt bemängelte, das Pathos der Reden der früheren Jahre habe bei Jüngeren eher zu Gleichgültigkeit geführt. In den 80er Jahren aber kam es dann zu einer „Renaissance“.
Als der Präsident des Bundesverfassungsgerichts und spätere Bundespräsident Roman Herzog eine Variante fand, die Erfolge der DDR einzugestehen, aber als „systemfern“ zu interpretieren, ergab sich eine neue Nuance. Herzog erklärte u. a.: „Natürlich ist die DDR heute kein stalinistischer Staat mehr, natürlich gibt es heute dort die oft zitierte Identifikation mit dem Staat – wenn auch nicht mit dem System –, und das kann ja, wenn man vernünftig denkt, auch gar nicht anders sein. Die Deutschen in der DDR betrachten diesen Staat, seinen bescheidenen Wohlstand und seine Rolle in der Welt als ihre eigene Leistung, auf die sie mit Recht stolz sein können, schon deshalb, weil ihr politisches System den Aufstieg anders als das unsere nicht gefordert, sondern ständig behindert hat. Sie hatten es also schwerer als wir, und entsprechend größer ist auch ihre Genugtuung über das, was sie geschaffen und geleistet haben.“ Hat dieser Mann im höchsten Staatsamt der BRD je ähnliches gesagt?
1989 war Erhard Eppler, der an der Erarbeitung des Dialog-Papiers führend teilgenommen hatte, der Festredner. Er plädierte dafür, die Frage des künftigen Verhältnisses beider deutscher Staaten vom Begriff der „Wiedervereinigung“ zu trennen. Er forderte vor dem Bundestag, die Situation so anzuerkennen, wie sie sei und die Existenzberechtigung der DDR nicht in Frage zu stellen. Eppler wandte sich zugleich gegen den Begriff vom „Verrat an der Einheit des Landes“. Adenauer habe nicht die deutsche Einheit und Brandt nicht die deutschen Ostgebiete verraten. Der Applaus aller Fraktionen des Bundestages war ihm sicher.
Die Rechtsaußen-Politiker Alfred Dregger und Wolfgang Bötsch gratulierten Eppler. Dessen Rede am 17. Juni 1989 hätte in der DDR die Alarmglocken läuten lassen müssen, forderte Eppler doch dazu auf, darüber nachzudenken, „was in Deutschland geschehen soll, wenn der Eiserne Vorhang rascher als erwartet durchrostet“.
Den Schlußpunkt der Bundestagsreden zum 17. Juni setzte 1990 Manfred Stolpe. Er sah den Herbst 1989 in der Kontinuität des 17. Juni und als dessen siegreiche Krönung. Damit schließt sich der Kreis.
Fazit: Das Spektakel um den 17. Juni hat zur „Staatsintegration“ der BRD-Bürger auf antikommunistischer Grundlage beigetragen, was dadurch erleichtert wurde, daß die herrschende Ideologie aus der Zeit vor 1945 nicht überwunden werden mußte. Es hat westlich der Elbe deren Identifizierung mit dem politischen System gefördert, indem man den Medienkonsumenten die vermeintliche Alternative Demokratie oder Diktatur, Freiheit oder Sozialismus suggerierte. Es hat dazu geführt, kritische Stimmen zu isolieren und auszuschalten, „Massenloyalität und Stabilitätssicherung“ zu befördern.
Die DDR existiert – rechnet man die Zeit bis zum 18. März 1990 – seit über 24 Jahren nicht mehr, wohl aber gibt es Zeitzeugen, die den 17. Juni 1953 noch selbst erlebt haben, auf dieser wie auf jener Seite der „Barrikade“. Die Organisatoren des Getöses um den 17. Juni sollten bedenken: Die „Opposition“ von 1953 war eine lautstarke Minderheit, nicht aber „das Volk“. Solches galt auch für den Herbst 1989, obwohl die Minorität mit Hilfe westdeutscher Medien auch diesmal als „das Volk“ deklariert wurde.
Am 17. Juni 2010 hielt Gesine Schwan (SPD) die Gedenkrede. Sie fragte: „Steht uns im vereinigten Deutschland ein neuer 17. Juni bevor? Sicher nicht. Doch daß es unter der Oberfläche gärt, kann keiner abstreiten.“ Die Politikerin fügte hinzu: „Ein Gefühl der Ohnmacht und der Ungerechtigkeit hat sich in unserer Demokratie ausgebreitet.“
„Die deutsche Geschichte geht weiter“, titelte Richard von Weizsäcker eines seiner Bücher. Zu ihr gehören auch Erbe und Vermächtnis der DDR.
Nachricht 1556 von 2043