Das große Herz der Annelie Thorndike
Die lachlustige, blondbezopfte Annelie vom Schlosser Kunigk, die sonst ohne Rücksicht auf ihr Kleid mit den weißen Manschetten wie ein Junge von der Schule nach Hause rannte, ging heute merkwürdig gesittet die Dorfstraße entlang. Nicht etwa wegen einer Aufbesserung der Betragenszensur – da war nichts zu befürchten! (Sie fragte zwar mehr als andere Kinder der Klasse, aber vorlaut war sie eigentlich nie.) Nein, heute ging ihr etwas durch den Kopf, das sie, zum erstenmal vielleicht in ihrem zehnjährigen Leben, ernsthaft beschäftigte.
„In Rußland gibt es keine Gutsbesitzer mehr“, hatte der Lehrer gesagt. „Da werden doch alle Leute arbeitslos und müssen verhungern?“ hatte sie gefragt. „Sehr richtig, mein Kind, und so ist es auch.“ Der Lehrer maß sie mit wohlwollendem Blick. Wenn der Ärmste gewußt hätte, daß seine ehemalige Schülerin aus dem kleinen pommerschen Dorf diese Episode dreißig Jahre später mit großem Lacherfolg den Stahlwerkern von Magnitogorsk erzählen würde!
Als Annelie die Dorfschule beendet hatte, mußte die Mutter eine Stelle im Gemeindedienst annehmen, denn Annelie sollte Lehrerin werden. Und das war teuer, sehr teuer. Hitlers „1000jähriges Reich“ lag in den letzten Zügen, als die frischgebackene Lehrerin mit der Unbekümmertheit ihrer 19 Jahre und dem brennenden Wunseh, endlich vor einer Klasse zu stehen, ihrem Bestimmungsort Gumbinnen im Kreise Tilsit entgegenfuhr. In der Schule gab es keine Schüler, dafür erschöpfte Soldaten, Feldgendarmerie, Chaos … Die Befreiung erlebte sie als Hilfskrankenschwester in Greifswald.
Im Juli 1945 erklärte sie dem Stadtkommandanten der mecklenburgischen Kreisstadt Penzlin bestimmt, sie wolle etwas Nützliches tun: Sie sei nämlich Lehrerin. Schmunzelnd maß der Oberst dieses Mädchen, das sich als „Aktivistin der ersten Stunde“ entpuppte. Als „Amtsperson“, mit der Organisierung des Schulwesens im Ort betraut, verließ sie die Stadtkommandantur. Wenige Wochen später begann der Unterricht mit zwei Kolleginnen und 700 halb verwahrlosten Kindern in einem großen Hof. Aber es gab keine Bücher. Sie ging zum Kommandanten. „Nehmen sie die alten.“ „Da ist Hitler drin.“ „Dann schneiden Sie ihn raus.“ Das konnte keine Lösung sein, doch Abend für Abend schnitt sie aus den Schulfibeln den braunen Diktator heraus. Das war der Anfang ihrer politischen Laufbahn.
Eines Tages platzte in ihre Stunde – sie unterrichtete gerade Geschichte – ein sowjetischer Offizier, Lehrer aus Leningrad. Nach dem Unterricht versuchte er der jungen Kollegin, die glänzende methodische Fähigkeiten besaß und mit Feuereifer bei der Sache war, klarzumachen, daß sich die Weltgeschichte denn doch ein bißchen anders abgespielt habe, als sie sich in ihrem 20jährigen Kopf spiegelte … Sie dachte nach …, besuchte Lehrgänge, diskutierte, las viel. Und mit 21 Jahren wurde sie Mitglied der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands.
An einem Sommertag des Jahres 1950 sagte im Volksbildungsministerium jemand zu einem vielversprechenden, doch noch unbekannten Regisseur: „Wenn du für deinen Film eine vorbildliche Schule suchst, Genosse Thorndike, dann fahr in die Zentralschule Penzlin.“ Er fuhr und war begeistert: von der Schule und von ihrer Direktorin Annelie. Der nächste Film, der in Angriff genommen wurde, war der erste „der Thorndikes“. Für dieses Werk über das Leben von Wilhelm Pieck erhielten sie den Nationalpreis. Es folgten „… du und mancher Kamerad“, „Urlaub auf Sylt“, „Unternehmen Teutonenschwert“; fünf Jahre erlebnisreiche, harte Arbeit am „Russischen Wunder“.
Im Frühsommer des Jahres 1963 stand im festlich erleuchteten Großen Saal des Kreml eine junge Frau dem Vorsitzenden des Ministerrats der UdSSR gegenüber. Als erste Deutsche erhielt Annelie Thorndike aus der Hand Nikita Chruschtschows den Leninorden, der ihr und Andrew für ihr großes Filmwerk „Das Russische Wunder“ verliehen worden war.
Ein halbes Jahr später sprach die gerade nominierte Volkskammerkandidatin nach einer Wahlversammlung im Kreis Halberstadt mit einer jungen Bäuerin. Deren Anliegen hatte mit Film herzlich wenig zu tun, und dennoch war sie überzeugt, bei Annelie an die Richtige geraten zu sein. An eine Frau nämlich, die Herz und Verstand auf dem rechten Fleck hatte und genauso begeistert für die Gesellschaft arbeitete wie sie, Anni Schulze, es in ihrer LPG tat. Sie gab Annelie Thorndike ihr Tagebuch, es enthielt alles, was ihr wichtig schien: Verbesserung der Kartoffelkombine und der Futterrübenabdrehmaschine, wertvolle Gedanken, die sie abendlichen Fernsehprogrammen entnahm: „Man ist ein wahrer Mensch, wenn man nicht an sich, sondern an die anderen zuerst denkt“, zum Beispiel, oder „Denke und verändere!“ Merkwürdig, wie weit doch die Lebensauffassung der Bäuerin mit jener der Volkskammerkandidatin übereinstimmt. Oder umgekehrt: wie Annelie Thorndike der schlichten Frau aus der LPG ähnlich ist. Darin liegt wohl auch die Erklärung für die besonderen Briefe, die sie bekommt. Autogrammwünsche sind wenige darunter. Dafür aber die Versicherung eines Lernaktivs aus einem Leipziger Betrieb, daß es im Berufswettbewerb ganz vorn steht: die stolze Mitteilung einer Schulklasse aus Rostock, daß es bei ihr nun keine Sitzenbleiber mehr gibt; Berichte von ehemaligen Kollegen über interessante Ereignisse in der Schule; Grüße von einer Frau aus einem Krankenhaus in Solingen, einem Kameramann aus Wiesbaden. Grüße aus der Sowjetunion.
In einem Brief von Offizieren der zeitweilig in der DDR stationierten sowjetischen Truppen ist das Geheimnis gelöst: „Hinter den Bildern des Films haben wir das Herz seiner Schöpfer gespürt …“
Aus: Sonntag, Nr. 41, 1963
Mit dem Abdruck dieser vor 50 Jahren erschienenen Porträtskizze zu Leben und Werk Annelie Thorndikes gedenken wir der großartigen Pädagogin, Künstlerin und Kommunistin, die sich als dessen treue Leserin fest mit dem „RotFuchs“ verbunden fühlte.
Nachricht 1979 von 2043
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