Das Heulen der Wölfe
In den letzten Jahren der DDR sind viele Wahlberechtigte nicht mehr gerne ins Stimmlokal gegangen. Das En-bloc-Votum für die überwiegend durchaus verdienstvollen Kandidaten der Nationalen Front war mehr und mehr zur Routine erstarrt, ja fast zur Farce geworden. Doch gemach: So öde und farblos der Wahlakt nun von vielen auch wahrgenommen wurde – es handelte sich selbst in dieser Etappe der DDR-Geschichte um ein Votum für verläßlichen Antifaschismus, eine auf dem Gemeineigentum an Produktionsmitteln beruhende, also ausbeutungsfreie Gesellschaftsordnung und einen den Frieden verteidigenden sozialistischen Staat. Obwohl etliche DDR-Bürger das sicher nicht mehr so wie früher empfanden, stand es doch außer Frage.
Heute wird dem Wähler mit BRD-Paß ein knallbunter Parteienfächer angeboten. Mich erinnert diese Vielfalt an eine Episode, deren Zeuge ich vor über vier Jahrzehnten in Kalifornien wurde: „We are coming in all colours – uns gibt es in allen Farben“, bemerkte Leo Branton – einer der Verteidiger im Prozeß gegen Angela Davis –, den eine Geschworenenkandidatin für einen Weißen gehalten hatte, unter Hinweis auf seine afroamerikanische Abstammung. Derzeit kommen Politiker scheinbar aller Schattierungen daher, obwohl der Grundton kaum differiert. Denn außer dem Rot der Linkspartei herrscht schwarz-gelb-rosa-grüne Eintönigkeit vor, in die sich überdies das Braun der NPD mischt. Am farblosesten und unpolitischsten wirkt dabei die CDU-Chefin Angela Merkel. Ihre Ideologie ist die eines Chamäleons, vermag sich doch die in der „atheistischen“ DDR zur promovierten Mitarbeiterin der Akademie der Wissenschaften aufgestiegene Pastorentochter so übergangslos wie sonst niemand an ihre jeweilige Umwelt anzupassen. Darin unterscheidet sich die Thatcher-Imitatorin vom Original. Die „Eiserne Lady“, deren Verschnitt als „mächtigste Frau Europas“ die Kanzlerin jetzt auf der kontinentalen Bühne gibt, war nämlich eine durchgestylte Konservative.
Gegen Angela Merkel läuft übrigens ein Demontage-Versuch, der vom rechtskonservativ-chauvinistischen Flügel der eigenen Partei ausgeht. Dieser verbirgt sich hinter der Alternative für Deutschland (AfD). Die Tatsache, daß der frühere BDI-Chef Hans-Olaf Henkel bei der Gründungsversammlung des überwiegend aus bisherigen CDU- und FDP-Mitgliedern bestehenden Zusammenschlusses zugegen war, zeigt dessen Rückhalt bei Teilen des BRD-Monopolkapitals, die mit Merkels Kurs unzufrieden sind. Das Auftauchen der AfD könnte die CDU Prozentpunkte kosten. CSU-Fürst Horst Seehofer – der Herr über das Paradies der Steuerflüchtlinge aus allen bundesdeutschen Landen – wirft sich spaßeshalber in die Toga eines Mannes, der solche Leute für die Wahlkampfdauer nur noch durch die bayerische Hintertür einlassen möchte. SPD-Oberhaupt Sigmar Gabriel täuscht momentan Volksnähe vor. Er blinkt links und fährt rechts, wobei er sich auch manche Pfeile aus dem programmatischen Köcher der Linkspartei verbal entleiht. Im Hinblick auf finstere Seiten der eigenen Parteigeschichte nach Bebels Tagen scheint er allerdings unter hochgradiger Amnesie zu leiden.
Die „Dicken“ sind unterdessen die dicksten Freunde. Claudia Roth wird nicht einmal mehr rot, wenn man sie daran erinnert, wie sie gemeinsam mit Gabriel den einstigen Großinquisitor an die Staatsspitze hievte. Und ihre Grünen sind ja unterdessen in fast jeder Farbe zu haben.
Während wir von den durch einen hohen Beamten des Bundesverteidigungsministeriums befehligten und dadurch unter die Seeräuber gefallenen Piraten einmal absehen, wollen wir die geschrumpften Gelben der FDP wenigstens am Rande erwähnen. Es handelt sich um einen in die zweite Reihe der Parteien des Kapitals zurückgefallenen Verein, bei dem der von Ökonomie unbeleckte Wirtschaftsminister Rösler amtiert und Rainer Brüderle seinen kargen Geist versprüht, während man auf jeder Westerwelle gegen den Strom schwimmt, ohne dabei zum Wellenreiter zu werden.
Es ist Wahlkampf. Da entdecken die Reichen plötzlich ihr Herz für die Armen, ihre Politiker schwindeln das Blaue vom Himmel herunter, versprechen bis zum 22. September jedermann Gott und die Welt. Bei diesem farblos-bunten Treiben halten sich die Regisseure diskret im Hintergrund. Während die großen Wölfe, mit denen natürlich nicht die edlen Tiere gemeint sind, aufs Heulen verzichten, tun das die kleineren um so mehr. Natürlich fehlt es auch nicht an Leuten, die laut im Walde singen, um imaginäre Wölfe zu verscheuchen. Ihre von Haß auf die DDR befeuerte antikommunistische Kakophonie hat nichts Neues zu bieten.
Gibt es in diesem Parteiendschungel tatsächlich nur Schatten und keinerlei Licht?
Um die Frage zu beantworten, bedarf es weder taktischen Hakenschlagens noch raffinierter Winkelzüge. Schon im Januar-RF führten wir unseren Lesern vor Augen, wie der Bundestag aussähe, wenn die Fraktion der Linkspartei verschwände oder in die Bedeutungslosigkeit früherer Jahre zurückgeworfen würde, als ihr für eine Wahlperiode nur noch zwei Direktmandate verblieben.
In einem solchen Falle wären die Wölfe – sieht man von einzelnen Abgeordneten, die nicht in diese Kategorie fallen, einmal ab – wieder ganz unter sich. Der Antifaschismus, die Sache des Friedens und die Interessen sozial Benachteiligter besäßen dort so gut wie keine Lobby mehr.
Dabei sind wir uns durchaus darüber im klaren, daß die Partei Die Linke weder den Kapitalismus als Gesellschaftsformation hinterfragt noch eine systemverändernde politische Formation sein will. Überdies dürfte ihre Anziehungskraft durch den Verzicht Oskar Lafontaines – eines linkssozialdemokratischen Politikers der Extraklasse – zumindest im Westen nicht gestärkt worden sein.
Wenn Marxisten für die Linkspartei stimmen, was aus unserer Sicht unerläßlich ist, müssen sie einen Kompromiß nach der Devise eingehen: Wer das eine will, muß das andere in Kauf nehmen. Denn linke Wähler entscheiden sich nicht nur für von ihnen gewünschte Kandidaten, sondern haben bei der Abgabe ihrer Zweitstimme auch in Betracht zu ziehen, daß die Mandate nach der Reihenfolge auf den jeweiligen Landeslisten besetzt werden. So ist Krötenschlucken unvermeidlich.
Bei der Wahl zum Europaparlament kreuzte ich vor Jahren in Hellersdorf die PDS an. „Ohne André Brie!“, fügte ich hinzu, wodurch das Votum ungültig wurde. Damals war das mein Protest gegen einen der Sache abtrünnig gewordenen Politiker des rechten PDS-Flügels.
Was die anstehenden Bundestagswahlen betrifft, muß man auf „Doppelpack“-Varianten eingestellt sein, will man profilierte Mandatsträger der Linkspartei wie Gesine Lötzsch, Sevim Dagdelen, Christine Buchholz, Ulla Jelpke, Sahra Wagenknecht oder Wolfgang Gehrke, um nur einige zu nennen, wieder im Bundestag sehen.
Da dort – realistisch betrachtet – keine an Marx, Engels und Lenin orientierte Partei unserer Präferenz vertreten sein wird, sollten konsequent linke Wähler statt des Optimalen das Mögliche anstreben. Bei Aufrechterhaltung unverzichtbarer Fernziele kann es vorerst nur darum gehen, derzeit Erreichbares ins Kalkül zu ziehen
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