Kontrollierter Sinkflug nach glanzvollem Aufstieg
Das letzte Kapitel der HV A
Bernd Fischer – seit Jahren kundiger Autor unserer Zeitschrift und wissensreicher Gesprächspartner vieler RF-Regionalgruppen – hat ein neues Buch vorgelegt.
Darin schildert er das schmerzvollste Kapitel in der Geschichte des Auslandsgeheimdienstes der DDR – der Hauptverwaltung Aufklärung (HV A). Es geht um ihre erzwungene Auflösung im Zuge der Konterrevolution. Obwohl es sich hierbei um einen letztlich zum Absturz führenden Sinkflug handelte, beeindrucken die Selbstbeherrschung und verläßliche Disziplin der kleinen Schar mit dem Quellenschutz und personeller wie materieller Abwicklung des wohl sensibelsten Teils der DDR-Schutz- und Sicherheitsorgane befaßter Genossen.
Wie die HV A von Freund und Feind beurteilt wurde, ist ein Ruhmesblatt.
In seinen Memoiren notierte der 2007 verstorbene langjährige Leiter der Auslandsaufklärung der UdSSR, Armeegeneral Wladimir Krjutschkow: „Von den Freunden erhielten wir … Informationen, die ihren Niederschlag in politischen Entscheidungen von perspektivischer Bedeutung fanden. Sie halfen auch, Angriffe zu verhindern, Entführungen zu vereiteln und Provokationen abzuwehren.“
Milton Bearden, der lange Zeit in der CIA-Zentrale Langley die Abteilung Sowjetunion/Osteuropa leitete, bekundete 2004 auf einer Konferenz in Berlin: „In der Tat ist hier die Frage angebracht, wie sehr das allgemeine Niveau des Verständnisses, das den Kalten Krieg kalt hielt, durch die von der HV A … gesammelten nachrichtendienstlichen Erkenntnisse zusätzlich gefördert wurde.“
Auch der einstige CIA-Chefhistoriker Benjamin Fisher sprach Wahres aus: „Gemeinsam haben MfS und HV A es vermocht, daß sich die CIA in der DDR, einem neu-ralgischen Punkt im Kalten Krieg, als taub, stumm und blind erwiesen hat.“ Sie habe dort über keine echten Quellen verfügt, so daß sie 1989 von den Ereignissen buchstäblich überrascht worden sei.
Der dänische Historiker Thomas Wegener Friis ging noch einen Schritt weiter, als er die HV A „einen der erfolgreichsten, wenn nicht den erfolgreichsten Spionagedienst des Kalten Krieges in Ost und West“ nannte.
Diese Bewertung eines glanzvollen Aufstiegs soll vorangestellt sein, um die ganze Tragik des zwar von Beginn an kontrollierten, aber unvermeidlicherweise mit Aufprall und Zerschellen endenden Sinkfluges der HV A zu erfassen.
Mit der dilettantischen und zugleich verräterischen „Order zum sofortigen Öffnen“ der DDR-Staatsgrenze in Berlin durch ein schon bald darauf zum politischen Achtgroschenjungen mutierendes SED-Politbüromitglied am 9. November 1989 wurde auch das Finale der DDR-Sicherheitsorgane eingeleitet. Die wohl kaum ernsthaft angestrebte Umwandlung des MfS in ein Amt für Nationale Sicherheit (AfNS) hielt diesen Prozeß nur unwesentlich auf. In der Zeit vom 31. Oktober bis zum 31. Dezember 1989 sank die Zahl der Mitarbeiter der HV A von 4128 auf 2923. Am 31. März 1990 waren nach der Entlassung aller regulär Beschäftigten im Stellenplan des Komitees für die Auflösung des MfS/AfNS nur noch 246 bisherige HV A-Mitarbeiter vorgesehen. Die Verbliebenen leisteten eine titanische Arbeit. Sie folgten der bereits im November 1989 ergangenen zentralen Weisung zur Vernichtung sämtlicher Karteikarten, Akten und des verfilmten Materials der HV A. Schon im Monat darauf waren drei Viertel der Bestände – Originale wie Duplikate – nicht mehr vorhanden. Im Vordergrund allen Handelns standen der Schutz inoffizieller Mitarbeiter und oftmals in der Höhle des Löwen operierender Kundschafter.
Bei der am 15. Januar 1990 erfolgten Besetzung des Berliner MfS/AfNS-Gebäudekomplexes hatten sich Mitarbeiter westlicher Geheimdienste – vor allem der BRD – mit Material zu bedienen gesucht, wobei das beteiligte CIA-„Team“ in dieser Phase beinahe noch leer ausging. Erst im März 1990 gelangte Langley in den Besitz wichtiger Unterlagen.
Während in Berlin die Gesamtverfilmung der Zentralkartei durch die beherzten Mitarbeiter Bernd Fischers – des Beauftragten Leiters der HV A in ihrer Auflösungsphase – vernichtet und so dem gegnerischen Zugriff entzogen worden war, stieß das früheren MfS-Mitarbeitern unterbreitete Angebot, sie zu übernehmen, falls sie zur Identifizierung eigener Quellen in BRD-Regierungsinstitutionen bereit seien, ins Leere. Allerdings gab es auch einige höherrangige Überläufer, die Karten aufdeckten, was zur Festnahme so gut plazierter Kundschafter wie Rainer Rupp und Dr. Gabriele Gast führte.
Ende 1998 meldete die als Gauck-Behörde bezeichnete BRD-Inquisitionszentrale triumphierend, das Datenprojekt SIRA der HV A sei rekonstruiert worden. Tatsächlich gelangte eine Kopie der Sicherheitsverfilmung der DDR-Auslandsaufklärung – sie wurde unter der Bezeichnung „Rosenholz“-Datei bekannt – mit sämtlichen Eintragungen bis Januar 1988 in den Besitz der CIA. Unklar ist, wie diese äußerst sensible Kartei in deren Hände gelangen konnte.
In jedem Falle handelte es sich um eine ernste nachträgliche Niederlage der HV A. Am schlimmsten war die im Ergebnis doppelter Archivierung eingetretene Bloßlegung von Quellen. Übrigens gehörten zu den im Zuge der „Stasi“-Jagd Festgenommenen auch Generaloberst a. D. Werner Großmann und Oberst a. D. Bernd Fischer. Insgesamt wurden gegen 20 000 bis 30 000 Personen Ermittlungsverfahren wegen Tätigkeit für das MfS eingeleitet. Es kam zu etwa 300 Verurteilungen. Die meisten Betroffenen – Rainer Rupp erhielt mit 12 Jahren die längste Freiheitsstrafe – waren Kundschafter der HV A.
Am 15. Mai 1995 stellte das Bundesverfassungsgericht in einem Prozeß wegen „Landesverrats“, in dem auch Werner Großmann und andere leitende Mitarbeiter der Auslandsaufklärung angeklagt waren, unmißverständlich klar: „Die Angehörigen der Geheimdienste der DDR haben – wie die Geheimdienste aller Staaten der Welt – eine nach dem Recht ihres Staates erlaubte und sogar von ihm verlangte Tätigkeit ausgeübt.“
Die Auflösungsgruppe der HV A übergab der Öffentlichkeit eine Fülle von Archivmaterialien über die friedenssichernde Arbeit dieses Organs. Der spätere Bundesanwalt Lampe zeigte sich enttäuscht. Er wertete die historisch kostbare Sammlung mit den Worten ab, es handele sich dabei lediglich „um Dokumente von geringer Aussagekraft“.
Bernd Fischers neues Buch führt den Nachweis, daß frühere DDR-Bürger, aber auch Antiimperialisten der alten BRD und anderer Länder gute Gründe haben, die bleibenden Verdienste der HV A trotz des Debakels am Ende gebührend zu würdigen.
Bernd Fischer:
Das Ende der HV A
Die Abwicklung der DDR-Auslandsaufklärung
edition ost im Verlag das Neue Berlin, 2014. 288 Seiten
ISBN 978-3-360-01855-7
14,99 €
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