RotFuchs 216 – Januar 2016

Das schaurige Spiel um Formosus

Ulrich Guhl

An einem Januartag des Jahres 897 bot sich den in der römischen Lateransbasilika Versammelten ein schaurig-makabres Bild: Auf dem Papstthron saß – in prächtige Gewänder gehüllt und mit der Tiara gekrönt – der schon halbverweste Leichnam des neun Monate zuvor verstorbenen Papstes Formosus, dem sein Nachfolger Stephan VI. den Prozeß machte. Das ihm post mortem angelastete Verbrechen bestand darin, den Gegenkaiser Arnulf von Kärnten in dessen Konflikt mit Kaiser Guido von Spoleto unterstützt zu haben, als dieser ihm zu mächtig wurde. Ein Diakon hatte die undankbare Aufgabe, für den toten Papst auf die Anklagevorwürfe antworten zu müssen. Das Urteil stand ohnehin schon fest. Formosus wurde nach seinem Tode für abgesetzt erklärt und sein Schwurfinger abgehackt, während man seine Leiche in den Tiber warf.

Die Leichensynode von Rom gilt als ein Tiefpunkt in der an Negativereignissen gewiß nicht armen Kirchengeschichte.

An dieses gespenstige Schauspiel vor mehr als 1100 Jahren mußte ich unwillkürlich denken, als ich mir die Leichenschänder aus der DDR-Delegitimierungsindustrie der BRD vor Augen führte. Seit 25 Jahren wird auch hier ein im staatsrechtlichen Sinne Verstorbener aus dem Grab gezerrt, ohne Unterlaß geprügelt und immer aufs neue verdammt. Sicher wären die Regisseure dieses Spektakels froh, wenn es ihnen gelänge, jegliche positive Erinnerung an die DDR mitsamt der historischen Wahrheit über ihr Entstehen, ihre Stärken und Schwächen einfach in einem Fluß des Nimmerwiedersehens zu versenken.

Das Logo der jährlich 5,53 Millionen Euro verschleu­dernden „Bundesstiftung Aufarbeitung“ soll sugge­rieren: DIE DDR HAT ES NIEMALS GEGEBEN!

Doch diese DDR will anders als Formosus einfach nicht verwesen. Wie das abstoßende Spiegelbild des Dorian Gray führt sie der BRD die häßliche Wahrheit über ihr wirkliches Gesicht vor Augen. Sie läßt sich nicht abschütteln oder verscharren. Und man kann den in der DDR verwirklichten Schwur von Buchenwald auch nicht einfach aus der Geschichte amputieren wie den Finger des toten Papstes. Wohl kein anderer Staat leistet sich deshalb ein so lächerlich-makabres Kabarett staatlich verordneter Nichterinnerung an ein bestimmtes Kapitel der eigenen Geschichte. Was sich da als „Aufarbeitung der SED-Diktatur“ ausgibt, ist in Wahrheit eine Wiederholung der anfangs geschilderten römischen Leichensynode, bei der das Urteil bereits feststand. Mit einem gigantischen Aufwand an Menschen und Mitteln wird der krampfhafte Versuch unternommen, einem ganzen Volk ein Falschbild einzuhämmern, das die Beurteilung der 40-jährigen DDR-Geschichte fortan prägen soll. Mit Kopfschütteln betrachten ernstzunehmende Historiker im In- und Ausland das nun schon seit mehr als einem Vierteljahrhundert andauernde Spektakel, das einzig und allein darauf abzielt, das Urteilsvermögen der Bevölkerung zu paralysieren und das geistige Klima landesweit auf unerträgliche Weise zu vergiften. Jeder Widerspruch wird niedergebrüllt, jede Mahnung zu geschichtlicher Objektivität als Ketzerei verunglimpft. Mit einer aus den jahrzehntelang akkumulierten Parteibeiträgen der SED-Mitglieder zusammengeraubten Summe von 77 Millionen Euro bemüht sich allein die sogenannte Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, die Vergangenheit eines Drittels von Deutschland aus der Historie zu löschen. Während allein die notorische „Gauck-Behörde“ in ihren Spitzenzeiten 3200 Mitarbeiter entlohnte und die inzwischen umbenannte Institution heute noch etwa 1500 Angestellte beschäftigt, brachte es die „Zentrale Stelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen“ Anfang der 70er Jahre auf gerade einmal 120 Bedienstete. Heute sind dort nur noch 19 Mitarbeiter beschäftigt, die 1,7 Millionen Karteikarten und 600 000 Fotokopien aus der Zeit des Faschismus verwalten.

Seltsamerweise fragt niemand, warum man in anderen Ländern die Beurteilung der Geschichte ohne Zögern Historikern überträgt, während man es in der BRD „Aufarbeitern“ überläßt, das Staatsbild der DDR in eine Karikatur zu verwandeln. Und warum gibt es eigentlich keine Aufarbeiter für die Geschichte der Nazi-Diktatur oder der Kaiserzeit? Wieso versuchen Diffamierungsspezialisten wie Hubertus Knabe und Rainer Eppelmann immer wieder, sich als seriöse Geschichtsforscher auszugeben, obwohl sie im Unterschied zu jenen an einer wirklichen Erkundung der DDR gar nicht interessiert sind?

Der Historiker will Einblicke in das wirkliche Geschehen vergangener Jahrzehnte, Jahrhunderte und Jahrtausende gewinnen, der „Aufarbeiter“ braucht allein die Bestätigung seines politisch-ideologischen Zerrbildes. Während jeder seriöse Wissenschaftler seinen jeweiligen Forschungsgegenstand allseitig untersucht, um daraus belegbare Erkenntnisse zu gewinnen, will der Schnüffler nur das wahrnehmen, was er ohnehin schon zu wissen glaubt.

Jene, welche die „Leichensynode“ zur DDR mit großem Aufwand in Szene setzen, tun dies wie einst Papst Stephan VI., wobei sie die Antwort auf gestellte Fragen ebenfalls einem „armen Diakon“ überlassen. Während Historiker am Widerspruch und einer ungegängelten Debatte interessiert sein müssen, um ihre Erkenntnisse überprüfen, abwägen und hinterfragen zu können, vermag ein Hubertus Knabe nicht einmal den Anblick der staatlichen Symbole seines „Forschungsgegenstands“ DDR zu ertragen.

Ins Auge springt, daß die meisten „Aufarbeiter“ von ihrem Job recht einträglich leben können, während viele echte Historiker ein recht brotloses Dasein führen, vor allem dann, wenn sie das Thema DDR seriös behandeln. Die Tatsache, daß eine von blindem Haß gespeiste Propaganda aus der untersten Schublade als ideologische Krücke für das Geschichtsbild eines ganzen Staates herhalten muß, ist Ausdruck seltener Armseligkeit.

Noch nie fühlte ich mich über die DDR aufgeklärter als heute, obwohl Fragen unterdrückt und Wahrheiten unter Lügenbergen begraben werden.

Doch zurück zu Formosus. Nur kurze Zeit nach dem gespenstischen Schauspiel in der römischen Lateransbasilika wurde Stephan VI. selbst angeklagt und ermordet, während man den Leichnam seines Vorgängers Formosus aus dem Tiber barg, den Gemeuchelten nachträglich rehabilitierte und in die Gruft der römischen Peterskirche überführte.