Beschämendes aus der Chronik der SPD (1)
Das Votum für die Kriegskredite
In seiner Festrede zum 150. Jahrestag des Lassalleschen ADAV sagte der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel, seine Partei müsse sich für nichts schämen. Er hob dabei zu Recht den tapferen Widerstand vieler deutscher Sozialdemokraten gegen den Hitlerfaschismus hervor, wobei er den Heldenmut der Kommunisten verschwieg.
Zweifellos hat die SPD große Opfer in diesem Kampf gebracht, was unseren Respekt verdient. Auch in Spanien setzten Sozialdemokraten – Seite an Seite mit Kommunisten und anderen Antifaschisten – Francos Horden beherzten Widerstand entgegen. In jeder Etappe ihrer Geschichte besaß die SPD Mitglieder und Funktionäre, die sich für eine bessere Gesellschaft engagierten. Das Vorbild aller war August Bebel, dessen Leben und Wirken Dr. Ehrenfried Pößneck im RF 187 so eindringlich gewürdigt hat.
Doch die Chronik der SPD kennt auch eklatantes Versagen, zu dem sich heutige Führer dieser Partei redlich bekennen sollten.
Die derzeitige SPD-Spitze bezeichnet das Gründungsdatum des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins, der am 23. Mai 1863 in Leipzig aus der Taufe gehoben wurde, auch als Tag ihres eigenen Entstehens. Ferdinand Lassalle, der zum Vorsitzenden des ADAV gewählt wurde, war indes ein bürgerlicher „Staatssozialist“, der als Ziel der Arbeiterbewegung nicht die Zerschlagung, sondern die Reformierung des Ausbeuterstaates anvisierte. Die welthistorische Mission des Proletariats – die Notwendigkeit revolutionären Klassenkampfes zur Machteroberung und Errichtung einer neuen sozialistischen Gesellschaft – hat er nie ins Auge gefaßt.
In Lassalles Tradition stellten sich rechte SPD-Führer. Sie folgen ihr bis heute. Es gab fortschrittliche Grundsatzdokumente mit deutlich marxistischen Akzenten wie das Eisenacher und das Erfurter Programm, denen vor allem August Bebel und Wilhelm Liebknecht ihren Stempel hatten aufdrücken können. Doch reformistische SPD-Führer gingen andere Wege. Ihre Partei hat in entscheidenden Momenten der deutschen Geschichte versagt.
Ein Kulminationspunkt des Abgehens von den Vorstellungen Bebels und Liebknechts war das Verhalten der SPD-Reichstagsfraktion gegenüber dem durch das kaiserliche Deutschland vom Zaun gebrochenen Ersten Weltkrieg. An seinem Vorabend verfügte die SPD über 111 Parlamentsmandate. Als es um die Frage der Zustimmung oder Ablehnung der von Wilhelm II. geforderten Kriegskredite ging, trafen sich am 3. August 1914 die Fraktionsmitglieder zu einer Beratung. Philip Scheidemann, der damals die Sozialdemokraten im Reichstag führte, notierte in seinem Buch „Der Zusammenbruch“: „Nach dem Bericht Müllers sprachen sich von den 92 anwesenden Fraktionsmitgliedern 14 Genossen gegen die Annahme der Kriegskredite aus, unter ihnen Karl Liebknecht. 78 stimmten dafür, darunter Scheidemann und Wels. Anschließend wählte man eine Kommission, der Kautsky und Wels angehörten, die bis zum nächsten Morgen eine Erklärung verfassen sollte. … Die Fraktion akzeptierte (dann) das Hoch auf Kaiser, Volk und Vaterland. Mehrfach wurde verlangt, nicht mit ‚Hoch‘ zu schreien, sondern stillschweigend aufzustehen. Eine Debatte darüber gab es nicht.“
Karl Liebknecht konstatierte später, die Tragweite der Kreditbewilligung für das Umschwenken der gesamten Fraktion ins Regierungslager habe 1914 nicht auf der Hand gelegen. „Noch bestand die Hoffnung, der Beschluß vom 3. August sei das Ergebnis einer vorübergehenden Panik und werde alsbald korrigiert, jedenfalls nicht wiederholt und gar übertrumpft werden. … Nicht übersehen (werden) darf dabei aber auch, welche heilige Verehrung damals noch der Fraktionsdisziplin entgegengebracht wurde.“ Und: „Nach alter Überlieferung gab es nur ein Mittel, seine von der Mehrheit abweichende Meinung zu vertreten und nach Kräften zur Geltung zu bringen: den Kampf in der Fraktion. Daß deren Mehrheitsentscheidung zu respektieren sei, galt als ausgemacht.“ (Karl Liebknecht „Reden und Aufsätze“, Verlag der Kommunistischen Internationale 1921).
Am 2. Dezember 1914 gab Karl Liebknecht im Reichstag eine Erklärung ab, in der er die Aggression des Kaisers und der Reichsregierung als einziger Sozialdemokrat öffentlich anprangerte. An deren Schluß sagte er: „Indem wir Protest erheben gegen den Krieg, seine Verantwortlichen und Regisseure, gegen die kapitalistische Politik, die ihn heraufbeschwor, gegen die Annexionspläne, gegen den Bruch der belgischen Neutralität, gegen die Militärdiktatur, gegen die politische und soziale Pflichtvergessenheit, derer sich die herrschenden Klassen auch und gerade jetzt schuldig machen, lehnen wir die geforderten Kredite ab.“
Diese von Liebknecht der SPD-Reichstagsfraktion vorgeschlagene Erklärung war von ihr abgelehnt, die Aufnahme des Textes in das Stenogramm der Reichstagsverhandlungen verweigert worden.
Für seine mutige Stellungnahme, die auch gegen die rechten Führer der Sozialdemokratie gerichtet war, wurde Karl Liebknecht als „einflußloser Sonderling“ diffamiert. Je ungehemmter die damalige SPD-Spitze von der Fahne des internationalen revolutionären Sozialismus und der proletarischen Klassensolidarität desertierte, um so stärker wurde Karl Liebknecht jedoch zum Protagonisten des Widerstandes gegen die Politik der herrschenden Klassen. Zunächst kämpfte er allein und isoliert, doch schon bald gemeinsam mit Rosa Luxemburg und anderen standhaften Genossen. Die Spartakisten bildeten einen marxistischen Flügel, dem beide angehörten. Aus ihm ging zum Jahreswechsel 1918/19 die KPD hervor.
Nach dem hier Dargelegten sollte die Frage an Sigmar Gabriel erlaubt sein: Muß sich die SPD nicht für ihr Versagen im August und Dezember 1914 schämen? Sollte sie nicht im nachhinein den damaligen Kriegsgegnern unter den Sozialdemokraten ihren Respekt zollen?
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