RotFuchs 230 – März 2017

Vor 40 Jahren in der BRD gefordert

Deklaration zur Verwirklichung
der Menschenrechte

RotFuchs-Redaktion

Vor vierzig Jahren, am 16. März 1977, wurde auf einer Pressekonferenz in Bonn eine Deklaration zur Verwirklichung der Menschenrechte in der Bundesrepublik Deutschland vorgestellt, unter die in den Monaten danach zahlreiche Unterschriften gesammelt wurden. Erstunterzeichner waren mehrere hundert Persönlichkeiten, unter ihnen Pfarrer Martin Niemöller, Prof. Wolfgang Abendroth, der Komponist Hans Werner Henze sowie zahlreiche Betriebsräte und Gewerkschafter.

Der Begriff Menschenrecht wird in unserem Land immer mehr zum politischen Reizwort, mit dem Unrecht verdrängt, Unfreiheit kaschiert, Abhängigkeit vernebelt und Aggressivität getarnt werden soll. Wo selbsternannte Anwälte des Menschenrechts Strauß und Dregger heißen; wo Kampfbünde für das Menschenrecht von Springer und Löwenthal angeführt werden; wo Berufsverbote und Gesinnungsschnüffelei regieren; wo sich zwischen Grundgesetzauftrag und Verfassungswirklichkeit Abgründe auftun – dort ist es an der Zeit, Inhalt und Werte der Menschenrechte zu definieren.

Die Bundesrepublik ist ein technisch hochentwickeltes Land mit einem fleißigen und begabten Volk, das eine hochmoderne und leistungsfähige Industrie schuf. Doch in diesem Lande sind weit über eine Million Menschen arbeitslos, weil die Produktionsmittel im Besitz einer minimalen Oberschicht sind und allein nach dem Prinzip des höchstmöglichen Gewinns geführt werden.

Wir stellen fest: Das elementarste und allerwichtigste, für die Entfaltung der Persönlichkeit entscheidende Menschenrecht – das Recht auf Arbeit – muß in der Bundesrepublik verwirklicht werden.

Das Land, in dem heute tagtäglich unermeßliche materielle Werte geschaffen werden; in diesem Land wird das wertvollste Gut – die Jugend – zum Wegwerfartikel der Großindustrie. 300 000 Jugendliche sind ohne Lehrstelle, ohne Arbeit. 16jährige werden als Arbeits- und Berufslose ins Leben entlassen.

Wir stellen fest: Das unverzichtbare und im Grundgesetz festgeschriebene Menschenrecht auf gleiche Bildung und Berufsausbildung muß in der Bundesrepublik verwirklicht werden.

Die Frauen stellen die Mehrheit unseres Volkes. Sie leisten unendlich viel. Am Fließband, in Büros, im Haushalt und in der Familie. Doch die Frauen werden am schlechtesten ausgebildet und entlohnt, sie verlieren am ehesten ihren Arbeitsplatz, sie haben die geringsten Berufs- und Aufstiegschancen und sie dürfen nicht einmal darüber entscheiden, ob sie ein Kind gebären oder nicht.

Wir stellen fest: Das verbriefte und im Grundgesetz verankerte Menschenrecht auf Gleichberechtigung der Frau muß in der Bundesrepublik verwirklicht werden.

In unserem Lande werden Millionen ausländischer Arbeiter die primitivsten Menschenrechte vorenthalten: das Recht auf Gleichheit vor dem Gesetz, auf Ausbildung ihrer Kinder, auf menschenwürdige Wohnungen, auf Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, auf Zusammenleben ihrer Familien.

Wir stellen fest: In der Bundesrepublik müssen die Menschenrechte für die ausländischen Arbeiter und ihre Familien verwirklicht werden.

Die Bundesregierung duldet und fördert Berufsverbote, unter ihrer Verantwortung wird die verhängnisvolle Praxis der politischen Gesinnungsschnüffelei unter extremer Verletzung des Grundgesetzes praktiziert. Wo die Freiheit des Geistes und die Freiheit der Wissenschaft entwickelt werden sollen – in Schulen und Universitäten –, dort erzeugen die Berufsverbote eine erstickende Atmosphäre der reaktionären Anpassung, des Duckmäusertums, der Unfreiheit. 800 000 Überprüfungen, 3000 akute Fälle von Berufsverbot stellen eine brutale Verletzung des Menschenrechts dar.

Wir stellen fest: Das Menschenrecht auf freie Wahl des Berufes, auf freien Zugang zu jedem öffentlichen Amt, auf Freiheit in Bildung und Wissenschaft muß in der Bundesrepublik verwirklicht werden.

Das Grundrecht auf Meinungs-, Informations- und Pressefreiheit erstickte in unserem Land in einem beispiellosen Konzentrationsprozeß einiger weniger Pressemonopole. Nicht das tatsächliche politische Spektrum, nicht die realen gesellschaftlichen Prozesse, nicht die sozialen und demokratischen Probleme des Volkes werden in den Medien reflektiert, sondern der Standpunkt von Pressezaren wie Springer und Konzernbossen wie Schleyer. Die herrschende Meinung in der Bundesrepublik, das ist die Meinung der Herrschenden.

Wir stellen fest: Die Menschenrechte auf Informations- und Pressefreiheit müssen in der Bundesrepublik verwirklicht werden.

In unserem Lande dürfen ungehindert militaristische und neofaschistische Organisationen ihre Saat der revanchistischen Gewalt in Wort und Schrift verbreiten. SS-Treffen, Hitler-Verehrung und Rudel-Affäre sind ... Fanfarenstöße einer Bewegung, die sich in vielen Organisationen und Parteien, insbesondere in der CDU/CSU, breitmacht.

Wir stellen fest: Das Menschenrecht auf Auslöschung von Kriegshetze und Völkerhaß muß in der Bundesrepublik verwirklicht werden.

Unser Volk hat bittere Erfahrungen mit dem Antikommunismus, insbesondere mit dem Antisowjetismus gemacht. In seinem Namen starben Millionen Deutsche, und unser Volk stand am Abgrund des totalen Untergangs. Der kalte Krieg, der im Zeichen des Antikommunismus geführt wurde, kostete unser Land Milliarden und viele Einschränkungen demokratischer Grundrechte und Freiheiten. Das ist die Erfahrung der Geschichte. Die Herrschenden überschwemmen unser Land erneut mit einer Welle von Antikommunismus.

Wir stellen fest: Das Menschenrecht auf Frieden und Völkerverständigung muß in unserem Lande durch die Überwindung des Antikommunismus verwirklicht werden.

Wenn in unserem Land von den Herrschenden die Menschenrechte verachtet und verletzt werden, so drückt sich im Kampf der Gewerkschaften, im Wirken demokratischer Jugendverbände, in demokratischen Bewegungen gegen Berufsverbote und in Bürgerinitiativen der Wille des Volkes nach Demokratie, Freiheit, Menschenrecht und Selbstbestimmung aus.

Die hier genannten Menschenrechte verwirklichen heißt, die UNO-Charta und entscheidende Grundsätze der Schlußakte von Helsinki auf unser Land anzuwenden. Wir bekennen uns zu diesen Menschenrechten. Denn es geht um die Freiheit und die Menschenwürde des arbeitenden Volkes in unserem Lande.

Literaturhinweise

Ernst Bloch:
Marx und die bürgerlichen Freiheitsrechte (1953)
In: E. Bloch, Politische Messungen …
Suhrkamp-Verlag, Frankfurt a. M. 1970, Seiten 342–350

Tord Riemann / Ernst-Otto Schwabe:
Freiheit, Demokratie, Menschenrechte – für wen und wofür?
Panorama DDR, Berlin 1976, 64 Seiten

Robert Steigerwald:
Menschenrechte in der Diskussion
Verlag Marxistische Blätter, Frankfurt a. M. 1977

Hermann Klenner:
Freiheit, Gleichheit und so weiter
Dreizehn Streiflichter über die Menschenrechte
Staatsverlag der DDR, Berlin 1978, 144 Seiten

Jürgen Kuczynski:
Menschenrechte und Klassenrechte
Akademie-Verlag, Berlin 1978, 166 Seiten

Samuil Siws:
Die Menschenrechte – Fortsetzung der Diskussion
Progress-Verlag, Moskau 1981, 232 Seiten

DDR-Komitee für Menschenrechte:
Frieden und Arbeit
Schriften und Informationen 1/83, Berlin 1983, 80 Seiten

Thomas Paine:
Die Rechte des Menschen
Akademie-Verlag, Berlin 1983, 420 Seiten

Werner Flach:
Zerbrechlich wie Glas – Menschenrechte
Chancen in Ost und West
Urania-Verlag, Leipzig 1988, 144 Seiten