RotFuchs 233 – Juni 2017

Dem Dichter Johannes Bobrowski zum 100.

Prof. Dr. Benno Pubanz

Johannes Bobrowski

Johannes Bobrowski erklärte sich nicht für Brüderlichkeit, seine Dichtung war brüder­lich – so Stephan Hermlin in seiner Gedenkrede für den Dichterfreund, der am 9. April seinen 100. Geburtstag begangen hätte.

Trefflicher lassen sich Leben und Werk Bobrowskis nicht charakterisieren. In jeder Zeile, ob im Gedicht oder in seiner Prosa, bekennt er sich zum Bruder im Menschen. Sein letztes Gedicht „Das Wort Mensch“ schließt mit der Zeile: „Wo Liebe nicht ist, sprich das Wort nicht aus.“

Es gab glückliche und unglückliche Konstellationen im Leben Bobrowskis, die ihn einerseits begünstigten, andererseits zwangen, so zu werden.

Zu den glücklichen gehören seine Geburt in Tilsit, seine Entwicklung in Königsberg von 1928 bis 1938 und die intensive Beschäftigung mit Johann Georg Hamann, dem „Magnus des Nordens“, wie er genannt wurde, und mit Herder.

Die folgenden zwölf Jahre sind eher unglücklichen Konstellationen zuzurechnen: Arbeitsdienst, Kriegsdienst in der Hitlerwehrmacht, anschließend vier Jahre Kriegs­gefangenschaft im Don-Gebiet und an der mittleren Wolga.

Nach seinem eigenen Empfinden gehört er zu den Mitschuldigen an den „Verhee­rungen, die das deutsche Volk in einem Ausmaß wie nie zuvor über seine Nachbar­völker im Osten brachte“.

„Ich befasse mich, nach meiner Absicht, mit dem Verhältnis der Deutschen zu ihren östlichen Nachbarvölkern“, sagt er in einem Vortrag, dem er nicht zufällig die Über­schrift „Benannte Schuld – gebannte Schuld?“ gegeben hat. „Ich benenne also Ver­schuldungen – der Deutschen –, und ich versuche, Neigungen zu erwecken zu den Litauern, Russen, Polen usw.“

Seine „Empfindungen“ werden nicht unwesentlich durch sein Verhältnis zur Beken­nenden Kirche bestimmt, in der er Möglichkeiten zu einem sozial orientierten Tat­christentum sieht.

In dem Aufsatz „Fortgeführte Überlegungen“ findet er dafür ein Gleichnis: „Eine Gebirgsstraße, eine schmale, kurvenreiche Fahrbahn, die eine Seite offen gegen den steilen Abhang. Die Christen also bauen ein Geländer oben. Und unten, für die Verun­glückten, eine Rettungsstation. Das ist, zugegeben, viel. Aber richtig wäre es, einen Tunnel durch den Berg zu hauen. Also Umgestaltung der Verhältnisse, darauf lief es hinaus.“

Er will nicht „Beobachter“ sein, „der Beobachter sieht nichts“, meint er. Er will Ver­gangenheit in die Gegenwart holen, um Fragen zu stellen und Urteile begründen zu können. Seine Erklärung: „Ich glaube …, daß es nicht Aufgabe des Schriftstellers ist, vergangene Zeit zu repräsentieren aus sich heraus, sondern immer von der Gegen­wart her gesehen und auf die Gegenwart hinwirkend, daß sich also diese Bereiche, der historische Bereich und die zeitgenössische Zeugenschaft, ständig durch­dringen.“

Bobrowski gestaltet sein Thema zunächst als Lyriker. „Sarmatische Zeit“ heißt der Titel seines ersten Gedichtbandes. Sarmatien, der römische Name für den osteuro­päischen Raum, den Bobrowski als seine weitere Heimat begriff, ist Zeichen und Sinnbild für jene Art der Auseinandersetzung mit seinem Thema, die sich nicht auf die unmittelbare Gegenwart beschränkt, sondern die Geschichte bis in die mythische Vorzeit einbezieht.

Vergangenheit wird bei Bobrowski zur Summe persönlicher Erfahrung und Volkserfah­rung, und Geschichte erscheint nicht nur als kritische Rückschau, sondern findet auch in Sagen, Märchen und Mythen ihren bildhaften Ausdruck. Selbst Landschaft ist mehr als der vorgefundene Rahmen für individuelle und gemeinschaftliche Lebens­gestaltung. Sie ist durch menschliches Wirken geprägte Umwelt, die die Lebensweise unterschiedlicher Völker und zahlloser Generationen in sich aufgenommen hat.

Doch zu dieser Innigkeit von Mensch, Natur, Landschaft und Geschichte gelangt Bobrowski nicht nur in seiner Lyrik, auch in seiner Prosa verweben sich alle Elemente des sarmatischen Raums. Etwa seit 1960 ist bei ihm eine verstärkte Hinwendung zum Roman, zur Kurzgeschichte und Erzählung zu beobachten. „Das hängt zusam­men mit dem Thema, das ich mir gestellt habe“, erklärt er dazu. „Das mehr summie­rende oder mehr grundsätzliche Gedicht, wie ich es auffasse, kann ganz bestimmte Sachverhalte nicht vermitteln. Dazu bedarf es des Details, dazu bedarf es der deut­licheren Ausarbeitung der Szenerie, dazu bedarf es der Charakterisierung der Perso­nen. Das ist für mich nur möglich in der Erzählung.“

So erzählt er in „Levins Mühle“ keineswegs nur eine dörfliche Begebenheit des Jahres 1874. In dieser Geschichte aus der Weichselgegend wiederholt sich im Kleinen, was die Welt im Großen bestimmt: der Gegensatz zwischen Arm und Reich, zwischen Recht und Gewalt, die Problematik der nationalen Beziehungen.

Schon auf den ersten Seiten, mit der spielerischen Suche nach dem einleitenden Satz, macht Bobrowski klar, daß die nationalen Gegensätze in Wirklichkeit soziale Gegensätze sind, aus denen Konflikte erwachsen. „Ob etwas unanständig ist oder anständig, das kommt darauf an, wo man sich befindet.“ Gleich zu Beginn sagt er, warum und für wen er die Geschichte erzählen will: „Ich sitze … einige hundert Kilometer Luftlinie westlich von jenem Weichseldorf. Ich weiß nicht, ob es das Dorf noch gibt; es ist unerheblich. Die Leute von damals gibt es nicht mehr, nur uns, Enkel und Urenkel.“

Und er wird noch deutlicher: „Da reden wir also über die Väter und Großväter und müßten doch wissen, daß diese Väter und Großväter ihrerseits ebenfalls Kinder sind, im dritten und vierten oder siebenundzwanzigsten Glied. Da gibt es kein Ende, wenn wir erst anfangen herumzusuchen. Da finden wir Schuldige über Schuldige und halten uns über sie auf und nehmen uns unterdessen vielleicht stillschweigend aus. Obwohl doch z. B. die ganze Geschichte hier unsertwegen erzählt wird.“

Bobrowski hält es für wichtig genug, seinen Lesern mitzuteilen, daß in „jenem Weich­seldorf“ ein Mühlenbesitzer – der Großvater des Erzählers – die neu errichtete kleine Mühle des zugewanderten Juden Levin durch Öffnung des Stauwehrs wegschwimmen ließ. Vergebens sucht dieser bei der deutschen Obrigkeit sein Recht. Gegen die Allianz zwischen dem vermögenden Großvater und dem Pastor Glinski, der beste Beziehungen zum Landrat hat, vermag er nichts auszurichten.

Doch der Großvater wird seines Sieges nicht froh. Er hat seine Absichten zwar durch­gesetzt, aber die moralische Verurteilung durch einen Großteil der Dorfbewohner läßt ihn nicht zur Ruhe kommen. Der Abdecker Fröse faßt das Urteil der Dorfarmen in einem Satz zusammen: „Du bist ein ganz großer Verbrecher.“

Und der alte Weiszmantel, „der die Lieder weiß“, singt den Polen, Zigeunern, Kossä­ten, Häuslern des Dorfes in der Scheune des Gastwirtes Rosinke eine Bänkelballade, in der er die umlaufenden Vermutungen, nach denen der Großvater der Mühlenver­nichter ist, aufgreift. Bobrowski räumt den Dorfarmen das Recht ein, den Großvater und andere Krakeeler aus Rosinkes Schenke hinauszubefördern. Und mehr noch, er gibt ihnen die Vermutung, damit etwas Außerordentliches erlebt zu haben. Der böhmische Musikant mit dem programmatischen Namen Johann Vladimir Geethe, wandelt den Ausspruch seines großen Namensvetters über die Schlacht von Valmy für die örtlichen Bedingungen ab: „Etwas ganz Neues. Und wir verfluchtige Hunde­zucht können verdammtnochmal sagen, wir sind zum Deiwel noch eins dabeigewesen Donnerschlag.“

„Die Leute von damals gibt es nicht mehr, nur uns, Enkel und Urenkel.“