Thomas Geves „Geraubte Kindheit“ im Donat-Verlag erschienen
Den Holocaust überlebt
Selten hat mich ein Buch so bewegt wie Thomas Geves „Geraubte Kindheit. Ein Junge überlebt den Holocaust“, welches der Donat-Verlag jetzt neu herausbrachte. Es ist ein Bericht über junge Menschen, die im faschistischen Konzentrationslager aufwuchsen. Es sind keine „Erinnerungen eines berühmten Mannes“, wie der Autor betont, sondern die eines Zeitzeugen, „der nur einer unter Tausenden war“. Gewidmet hat Geve seinen Bericht 18 damals genauso jungen Mithäftlingen aus Deutschland, der Slowakei, Polen, Tschechien, Griechenland, Holland, der Schweiz und Belgien.
Drei Jahre alt, als die Faschisten in Deutschland zur Macht kamen, lernte er schon als Kind Unterdrückung, Haß und Niedertracht kennen: Vaters Berufsverbot als Chirurg, das Pogrom im November 1938, die Prügelschule, den „Judenstern“, Kinoverbot, Luftschutzkeller-Verbot, die Arbeit als Totengräber und dann die Deportation. Er berichtet nicht nur über Erlebtes, sondern zugleich auch über Gedanken, Gefühle und Motive der Menschen, über Beziehungen zwischen ihnen. Die SS hatte ein barbarisches System mit zynischstem Sadismus, Peitsche, Folterzelle und Gaskammer-Tod errichtet. Die einzelnen sollten nur Werkzeuge sein, die nach ihrem „Verschleiß“ für das Krematorium bestimmt waren. Doch zuvor wollte man aus ihnen „Untermenschen“ machen – Bestien, die einander verraten, bestehlen und ausrauben. An ungezählten Beispielen beweist Geve indes: wahre Menschlichkeit auszurotten, war selbst den Faschisten nicht möglich! Sie konnten quälen, martern und morden, vermochten Polen, Russen, Ukrainer, Juden und Angehörige anderer Nationalitäten aufeinanderzuhetzen – doch menschliches Empfinden, Solidarität gänzlich zu vernichten, dazu waren sie nicht imstande!
Wie warmherzig schreibt Geve über seine Kameraden! Da ist der junge Mendel aus Białystok, der begeistert davon erzählt, wie er 1940 bei einer Massengymnastik auf Moskaus Rotem Platz die Spitze einer Pyramide bildete. Da ist der „kleine Berger“ aus Österreich, der im Lager zwar das Schreiben erlernt, sich aber von den eigenen Kameraden als „Zigeuner“ diskriminiert fühlt.
Ein Genosse bringt Thomas Nachricht von seiner Mutter, die sich im KZ Auschwitz-Birkenau befindet. Dann lernt er einen deutschen Kommunisten kennen, der als Krankenpfleger versucht, Häftlingen zu helfen. Er begegnet Frauen, die wegen „Unzucht“ ins KZ kamen und dort sexuell mißbraucht werden. Sie werfen Jungen und Schwachen ihre Brotrationen durchs Fenster – „ihre Herzen waren also mütterlich geblieben …“
Als sich dann das Blatt wendete und die Rote Armee den deutschen Faschismus zur Strecke zu bringen begann, gerieten sogar Nazis in die Folterzellen des KZ, darunter SS-Offiziere, denen man die Rangabzeichen abriß. Abends sangen russische Jungen in ihren Kojen. „In ihren ergreifenden Liedern lag so viel Widerstandsgeist und Zuversicht, daß man einfach mitsingen mußte“, schreibt Geve. Es gab einen Ausbruchsversuch in Budy, und das Krematorium in Birkenau wurde in Brand gesetzt. Drei Mädchen hatten aus der Munitionsfabrik, in der sie arbeiten mußten, Waffen und Sprengstoff besorgt. Die jungen Heldinnen wurden gehängt. Bei der nächsten Massenstrangulierung aber kam es zu Widerstandsbekundungen. Die Häftlinge, die an den Galgen vorbeimarschieren sollten, verweigerten das. Als eine Arbeitskolonne jungen Russinnen begegnete, erschollen Rufe: „Es lebe die Rote Armee!“ Als das Lager evakuiert wurde und seine Insassen gen Westen marschieren mußten, standen polnische Bäuerinnen am Straßenrand und reichten ihnen Milch, obwohl sie dafür von den Posten geschlagen wurden.
Als die Waggons mit den Häftlingen noch weiter nach Westen rollten, stimmten sie „Wacht auf, Verdammte dieser Erde …“ an. Das Schreien der Wachtposten ging in der Melodie der Internationale unter.
Letzte Etappe ist Buchenwald. Dort wird aus dem einfachen Gefühl der Menschlichkeit kämpferischer Humanismus, denn hier wirkt das Internationale Lagerkomitee, gibt es eine organisierte Widerstandsbewegung. So werden die SS-Posten durch eine eigene Lagerpolizei ersetzt. „Wie war es den Genossen gelungen, das alles zu bewerkstelligen?“ fragt sich der junge Geve. „Es mußte etwas Großes geben, für das sie leben wollten.“ Handelte es sich um jene politische Überzeugung, die schon lange verbannt und deren Träger in großer Zahl ermordet worden waren?
Als die SS „alle Juden ans Tor“ beordert, wird der Befehl verweigert. Am 11. April 1945, zwischen drei und vier Uhr früh, wird das Hakenkreuz am Eingang heruntergerissen und eine weiße Fahne gehißt. „Aber es war nicht die Fahne unserer Kapitulation, es war eine Fahne des Sieges. Es war nicht der Sieg einer Armee, die über den Ozean gekommen war, sondern ein selbsterkämpfter Sieg“, schreibt Geve. Abteilungen ehemaliger Häftlinge werden gebildet und bewaffnet, die SS-Leute und Nazi-Beamten aus ihren Verstecken geholt und in einen Käfig aus Stacheldraht gesperrt. Erst nachdem die Amerikaner das Lager übernommen haben, gibt man die Waffen ab.
Das Buch klingt mit der eindrucksvollen Feier des 1. Mai und dem 8. Mai aus – dem Tag der Befreiung und des Kriegsendes in Europa. „Es war Frieden. Was würden wir daraus machen?“, fragt Thomas Geve.
Heute liegen diese Ereignisse um nahezu sieben Jahrzehnte zurück, doch die Überlegungen des Autors sind noch immer brandaktuell. Wer waren beim Holocaust die Mörder? Nur die ihn exekutierenden SS-Banditen? Wer profitierte von der Sklavenarbeit bei IG Farben in Monowitz, wo die Buna-Produktion für die Wehrmacht vonstatten ging? Sind Vergleiche mit den Rüstungsprofiten des heutigen BRD-Kapitals wirklich zu weit hergeholt? Und wenn die Mehrheit der Deutschen sich damals durch die chauvinistisch-rassistische Hetze der Faschisten als verführbar erwies – ist diese Gefahr im Zeitalter Springers und der anderen Medien des Kapitals etwa geringer geworden?
„Geraubte Kindheit“ von Thomas Geve ist ein eindringliches Warnsignal, dem in der BRD anwachsenden und immer mehr die Institutionen durchdringenden „neuen“ Faschismus Paroli zu bieten. Dazu aber bedarf es des kämpferischen Geistes, den dieses Buch ausstrahlt. Es ist ein Hohelied der Menschlichkeit.
Thomas Geve:
Geraubte Kindheit
Ein Junge überlebt den Holocaust
Donat-Verlag, Bremen 2013, 238 Seiten
ISBN 978-3-943425-18-5
16,80 €
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