Der Bär und die Taube
Mein jahrzehntelanger journalistischer und politischer Einsatz an Brennpunkten des internationalen Geschehens brachte es mit sich, daß ich dort auch sowjetischen Kollegen, überwiegend Russen, begegnet bin. Ob in Japan, Lateinamerika, den USA, Westeuropa oder in ihrem Heimatland – ich habe sie immer als Menschen erlebt, die ohne Zweifel nationale Interessen wahrzunehmen wußten, sich aber vor allem als Vertreter einer friedenstiftenden Großmacht empfanden. Schon früher unterhielt ich als ehrenamtlicher Kreisvorsitzender der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft in Güstrow viele Kontakte mit Bürgern der UdSSR. So erinnere ich mich an ein langes nächtliches Gespräch mit Irma-Gabel Thälmann und jenem sowjetischen Arzt, der sie und ihre Mutter Rosa im Mai 1945 nach der Befreiung beider Frauen aus dem KZ Ravensbrück medizinisch versorgt hatte. Er wirkte auf mich wie die Friedensliebe in Person.
Die meisten DDR-Bürger hatten das sichere Gefühl, daß die Sowjetunion einen neuen Weltbrand zu verhindern gewillt und imstande sei. Denn der russische Bär und Picassos Taube waren miteinander im Bunde. Die Geschichte hat dieser Vision recht gegeben: Zwischen 1945 und 1991 war es die UdSSR, die den Völkern Europas ein abermaliges Blutvergießen ersparte. Während die USA in Asien – zunächst in Korea und dann in Vietnam – die blutigsten Aggressionskriege der Gegenwart vom Zaun brachen, verhinderten das konsequent eingesetzte sowjetische Veto im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen und Moskaus Besonnenheit, daß es zu einem dritten Weltkrieg kam. Damit gelang es den Russen, wie die von ihnen angeführte Vielvölkerfamilie der Sowjetunion oft vereinfachend genannt wurde, den Untergang der Zivilisation abzuwenden.
Mit dem Zusammenbruch der UdSSR und der Staaten des Warschauer Vertrages verlor die Menschheit ihre entscheidende Bastion im weltweiten Widerstand gegen die Kriegsgefahr.
Dabei war die sowjetische Außenpolitik sicher nicht zu allen Zeiten ohne Defizite. Das betrifft zum Beispiel Chruschtschows einseitige Interpretation der friedlichen Koexistenz. Er betrachtete sie wohl weniger als eine Form des Klassenkampfes und eher als Anpassung an den weltpolitischen Status quo.
Andererseits sollte das auf ihren Bündnisverpflichtungen beruhende sowjetische Eingreifen bei Krisensituationen in sozialistischen Staaten Europas nicht, wie vom imperialistischen Gegner behauptet, als Akt der Intervention aufgefaßt werden. Die Soldaten der UdSSR verhinderten damit das Vordringen von Kräften, die dem NATO-Kriegspakt und seiner damals alleinigen Führungsmacht USA die Tore öffnen wollten. Das betrifft nicht zuletzt die Zurückweisung der konterrevolutionären Machteroberungsgelüste jener imperialistischen Kreise des Westens, welche in der DDR und in Ungarn schon 1953 und 1956 die Uhren der Geschichte zurückdrehen wollten. Es gilt auch für die von der legitimen Kabuler Volksregierung ausdrücklich erbetene sowjetische Hilfe gegen CIA-gestützte Söldnerbanden in Afghanistan. Dieser Einsatz brachte der Sowjetunion indes keinen Siegeslorbeer ein und beschleunigte eher den innenpolitischen Erosionsprozeß im eigenen Land.
Noch einmal kehre ich zu selbst Erlebtem zurück. Reisen führten mich wiederholt in die leidgeprüfte Stadt an der Wolga, das frühere Stalingrad, wo 1943 eine gigantische Schlacht ihr Ende fand, die als Wendepunkt des Zweiten Weltkriegs in die Geschichte eingegangen ist. Es handelt sich dabei um eine unumstößliche Tatsache, auch wenn Obama und seinesgleichen der kühnen und opferreichen, von Washington allerdings bewußt hinausgezögerten Landung westalliierter Truppen in der Normandie jetzt diesen Stellenwert geben möchten. Überaus herzliche Kontakte zu Einwohnern Wolgograds vor Augen, muß ich an Jewgeni Jewtuschenkos bewegendes Friedensepos „Meinst Du, die Russen wollen Krieg?“ denken. Seine Worte habe ich zutiefst verinnerlicht. Es stimmt: Die Russen und jene Nationalitäten, welche mit ihnen unter einem gemeinsamen staatlichen Dach leben, wollen nur eines: den Frieden. Darin sind sie sich mit allen Völkern, nicht aber mit allen Staaten und deren Regierungen einig.
In der Person Wladimir Putins steht offensichtlich der richtige Mann an der Spitze der Russischen Föderation. Der einstige Tschekist und Bolschewik mag heute ganz andere Vorstellungen als früher haben, doch die Verteidigung des Friedens steht für ihn weiterhin an erster Stelle. Nach dem prinzipienlosen Überlaufen Gorbatschows in das Lager der Millionäre und dem Abdanken des Schurken Jelzin hat er die traditionelle russische Friedenspolitik wieder aufgenommen. Diese Haltung brachte dem zunächst nur durch eine Minderheit bejahten Staatschef inzwischen die Sympathie von vier Fünfteln der Bevölkerung seines Landes ein.
Putin und Außenminister Lawrow haben mehr als einmal ihre staatsmännische Besonnenheit unter Beweis gestellt. Als führende Politiker des territorial größten Landes der Welt, das eine auf Kriegsverhinderung zielende Außenpolitik verfolgt, hätten sich beide damit den Friedensnobelpreis verdient. Doch dieser wird ja bekanntlich seit Jahrzehnten überwiegend an ganz andere Leute vergeben. Der damit dekorierte USA-Präsident Barack Obama und dessen NATO-Partner lassen nichts unversucht, um den russischen Staatschef von seiner scheinbar stoischen Haltung abzubringen. Es ist ihnen aber nicht gelungen, Wladimir Putin aufs Glatteis zu führen. Die Souveränität, mit der er die Absichten jener durchkreuzte, welche ihn in die ukrainische Falle locken und Moskau zum Einmarsch ins Donezk-Becken bewegen wollten, ist bewundernswert.
Tatsächlich steht die russische Führung vor einem Dilemma, wie es Reinhard Lauterbach, der sachkundige Berichterstatter der „jungen Welt“, formulierte. Welche Höllenqualen müssen die Moskauer Politiker bei aller Kühle der Köpfe wohl angesichts der Tatsache ertragen haben, daß sie Rußland aufrichtig verbundene ethnische Landsleute in der Ostukraine nicht wirksamer vor den Kiewer Rechtsextremisten zu schützen vermögen!
Doch Putin hat selbst unter dem Druck solcher Belastungen Nervenstärke bewiesen. Die Zurückhaltung, zu der er sich zwingt, beruht ohne Zweifel auf der Erkenntnis, daß es die NATO von Beginn an darauf angelegt hat, die Russen zum direkten Eingreifen auf seiten der „Separatisten“ zu provozieren. Gingen sie in diese Falle, dann könnte das tatsächlich einen großen Krieg auslösen.
Einst galt die Sowjetunion als Hort des Friedens in der Welt. Heute hat die Russische Föderation diesen Platz wieder eingenommen. Wie man sieht, sind der Bär und die Taube Verbündete geblieben.
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