RotFuchs 215 – Dezember 2015

Aus der Rede Wladimir Putins vor der Vollversammlung
der Vereinten Nationen am 29. September 2015 in New York

Der Bedrohung gemeinsam begegnen!

RotFuchs-Redaktion

Die Vereinten Nationen sind eine Struktur, für die es im Hinblick auf Legitimität, Repräsentativität und Universalität keine vergleichbare gibt. Ja, an der UNO gibt es in letzter Zeit viel Kritik. Sie sei nicht effizient genug, und das Treffen von prinzipiellen Entscheidungen stoße auf unüberwindliche Widersprüche, vor allem zwischen Mitgliedern des Sicherheitsrats.

Ich möchte bemerken, daß es in der UNO im Verlauf der gesamten 70 Jahre ihrer Existenz immer Differenzen gab. Das Vetorecht wurde sowohl von den Vereinigten Staaten als auch von Großbritannien, Frankreich, China, der UdSSR und später Rußland genutzt. Das ist für eine derart vielfältige und repräsentative Organisation ganz natürlich. Bei Gründung der UNO war auch nicht vorgesehen, daß hier Überein­stimmung in der Gesinnung herrschen würde. Das Wesen dieser Organisation besteht eigentlich in der Suche nach und der Ausarbeitung von Kompromissen, ihre Stärke ist die Berücksichtigung der verschiedenen Meinungen und Sichtweisen.

Wladimir Putin bei der bewegenden Demonstration Hunderttausender, die am 9. Mai 2015 in Moskau ihre im Großen Vaterländischen Krieg gefallenen Angehörigen ehrten.

Wir alle wissen, daß in der Welt nach dem Ende des Kalten Krieges ein einziges Zentrum der Dominanz entstanden ist. Und dann bildete sich bei denen, die an der Spitze dieser Pyramide standen, die Verlockung heraus zu denken, sie seien besser als alle anderen und wüßten, was zu tun sei. Und folglich müßte man die UNO nicht berücksichtigen, die oftmals, anstatt eine gewünschte Entscheidung automatisch zu legitimieren, nur unnötig störe. Man begann davon zu sprechen, daß die Organisation in der Form, in der sie geschaffen wurde, veraltet sei und ihre historische Mission erfüllt habe.

Sicherlich, die Welt wandelt sich, und die UNO muß dieser natürlichen Transformation entsprechen. Rußland ist bereit, auf der Basis einer breiten Übereinstimmung mit allen Partnern an der Weiterentwicklung der UNO zu arbeiten, doch die Versuche, ihre Autorität und Legitimität zu untergraben, sind äußerst gefährlich. Das kann zu einem Einsturz der gesamten Architektur der internationalen Beziehungen führen. Dann werden uns wirklich keine Regeln außer dem Recht des Stärkeren bleiben. Das wird eine Welt sein, in der statt kollektiver Arbeit der Egoismus herrschen wird, eine Welt mit immer mehr Diktat und immer weniger Gleichberechtigung, realer Demokratie und Freiheit, eine Welt, in der sich anstelle wirklich souveräner Staaten die Zahl der Protektorate und von außen gesteuerten Territorien mehren wird. Denn was ist staatliche Souveränität, von der hier bereits die Rede war? Das ist in erster Linie eine Frage der Freiheit, der freien Wahl des Schicksals für jeden Menschen, jedes Volk und jeden Staat.

Es genügt, auf die Situation im Nahen Osten und in Nordafrika zu blicken. Gewiß, die politischen und sozialen Probleme häuften sich in diesen Regionen seit langem an, und die Menschen wollten Veränderungen. Doch was geschah in Wirklichkeit? Eine aggressive äußere Einmischung führte dazu, daß anstelle der Reformen die staat­lichen Institutionen und die Lebensweise der Menschen rücksichtslos zerstört wurden. Statt des Triumphs von Demokratie und Fortschritt gibt es Gewalt, Armut, eine soziale Katastrophe, während die Menschenrechte, einschließlich des Rechts auf Leben, keinen Wert mehr besitzen.

Besonders tragisch ist das Schicksal der vom Krieg betroffenen Kinder.

Es ist bereits offensichtlich, daß das in mehreren Ländern des Nahen Ostens und Nordafrikas entstandene Machtvakuum zu Anarchiezonen geführt hat, die sofort von Extremisten und Terroristen gefüllt wurden. Unter den Fahnen des sogenannten Islamischen Staates stehen bereits Zehntausende Kämpfer. Unter ihnen sind ehemalige irakische Militärs, die nach der Invasion 2003 auf die Straße geworfen wurden. Ein Ursprungsland für Rekrutierung ist auch Libyen, dessen Staatlichkeit durch grobe Verletzung der Resolution des UN-Sicherheitsrats Nr. 1973 zerstört wurde. Und heute werden die Reihen der Radikalen durch Mitglieder der sogenannten gemäßigten syrischen Opposition, die vom Westen unterstützt wird, aufgefüllt.

Zuerst werden sie bewaffnet und ausgebildet, und dann laufen sie zum sogenannten Islamischen Staat über. Doch auch der IS selbst entstand nicht aus dem Nichts, er wurde anfangs ebenso als Waffe gegen die unerwünschten säkularen Regimes hochgezüchtet. Nach der Bildung der Ausgangsbasis in Syrien und Irak versucht der IS aktiv, in andere Regionen zu expandieren und zielt auf die Herrschaft in der islamischen Welt und nicht nur dort ab. Er beschränkt sich nicht auf diese Pläne. Die Lage ist mehr als gefährlich.

In einer solchen Situation ist es heuchlerisch und verantwortungslos, mit lauten Deklarationen über die Bedrohung, die vom internationalen Terrorismus ausgeht, aufzutreten und gleichzeitig die Augen vor Finanzierungs- und Unterstützungs­kanälen der Terroristen zu verschließen, darunter dem Handel mit Drogen, illegalem Öl und Waffen, oder zu versuchen, die extremistischen Gruppen zu steuern, sich ihrer für die eigenen politischen Ziele in der Hoffnung zu bedienen, daß man sie später irgendwie erledigt oder, einfacher gesagt, liquidiert.

Syrische Demonstranten danken Rußland vor dessen Botschaft in Damaskus für sein Eingreifen gegen den IS und andere Terroristen.

Wir halten alle Versuche, mit Terroristen zu flirten und sie erst recht zu bewaffnen, nicht nur für kurzsichtig, sondern auch für brandgefährlich. Im Endergebnis kann die terroristische Gefahr kritisch anwachsen und neue Regionen der Erde erfassen. Um so mehr, als daß Kämpfer aus vielen Ländern – darunter auch europäische – die Ausbildungslager des IS durchlaufen.

Leider muß ich ehrlich sagen, daß auch Rußland hierbei keine Ausnahme darstellt. Wir dürfen nicht zulassen, daß jene, welche bereits Blut geleckt haben, später nach Hause zurückkehren und dort ihre dunkle Sache fortführen. Wir wollen das nicht. Und niemand will das, nicht wahr? Rußland trat immer hart und konsequent gegen den Terrorismus in allen seinen Formen auf.

Heute leisten wir Irak, Syrien und anderen Ländern der Region, die gegen terroris­tische Gruppen kämpfen, militärische und technische Hilfe. Wir halten die Absage an eine Zusammenarbeit mit den syrischen Behörden, die mutig von Angesicht zu Angesicht gegen den Terror kämpfen, für einen riesigen Fehler. Man muß endlich anerkennen, daß außer den Regierungstruppen des Präsidenten Assad und den kurdischen Milizen niemand in Syrien gegen den IS und andere Terrororganisationen kämpft.

Ich muß anmerken, daß unsere ehrliche und direkte Herangehensweise in letzter Zeit als Vorwand genutzt wird, um Rußland wachsender Ambitionen zu beschuldigen. Als ob diejenigen, die davon sprechen, selbst keine Ambitionen hätten! In Wirklichkeit schlagen wir vor, sich nicht von Ambitionen, sondern von gemeinsamen Werten und Interessen auf der Basis des Völkerrechts leiten zu lassen, die Anstrengungen für die Lösung der vor uns stehenden neuen Probleme zu vereinen und eine wirklich breite internationale antiterroristische Koalition zu bilden. Wie die Anti-Hitler-Koalition könnte sie in ihren Reihen unterschiedlichste Kräfte vereinen, die bereit sind, denjenigen entschieden entgegenzutreten, die wie die Nazis das Böse und die Menschenverachtung säen.

Und natürlich müssen islamische Staaten Schlüsselteilnehmer einer solchen Koalition werden. Denn der IS birgt nicht nur für sie eine direkte Bedrohung, sondern kompromittiert durch seine blutigen Verbrechen auch eine der großen Weltreligionen. Die Ideologen der Kämpfer verhöhnen den Islam und verfälschen seine wahren humanistischen Werte.

Ich möchte mich an die geistlichen Führer der Muslime wenden: Heute sind sowohl Ihre Autorität, als auch Ihr wegweisendes Wort sehr gefragt. Es ist nötig, diejenigen Menschen vor unüberlegten Schritten zu bewahren, welche die Kämpfer anzuwerben versuchen. Und denjenigen, die betrogen wurden und aus verschiedenen Gründen bei den Terroristen landeten, muß man helfen, einen Weg zum normalen Leben zu finden, die Waffen niederzulegen und den brudermörderischen Krieg zu beenden.

Wir hoffen, daß die internationale Gemeinschaft in der Lage sein wird, eine umfassen­de Strategie der politischen Stabilisierung und des sozialen wie des wirtschaftlichen Wiederaufbaus des Nahen Ostens auszuarbeiten. Dann wird man keine Flüchtlings­lager errichten müssen. Der Strom der Menschen, die genötigt sind, ihre Heimat zu verlassen, hat buchstäblich zunächst die Nachbarstaaten erfaßt und dann auch Europa. Die Zahlen gehen in die Hunderttausende und können in die Millionen gehen. Das ist im Grunde eine neue große und bittere Völkerwanderung und eine schwere Lektion für uns alle, darunter auch Europa.

Die Flüchtlinge brauchen zweifellos Mitgefühl und Unterstützung. Doch das Problem kann man nur durch die Wiederherstellung der Staatlichkeit dort, wo sie zerstört wurde, grundlegend lösen, durch die Stärkung der Machtinstitutionen, wo sie noch erhalten werden konnten oder wiederaufgebaut werden, durch allseitige Hilfe – sei es militärisch, wirtschaftlich oder materiell – für Länder, die sich in der schwierigen Situation befinden, und natürlich für Menschen, die trotz aller Härte die Heimatorte nicht verlassen.

Es versteht sich, daß jede Hilfe an souveräne Staaten nicht aufgezwungen, sondern nur im Einklang mit der UNO-Charta angeboten werden muß. Alles, was heute und in der Zukunft in dieser Sphäre den Normen des Völkerrechts entsprechend geleistet wird, muß von unserer Organisation unterstützt, und alles, was der UNO-Charta widerspricht, muß abgelehnt werden. In erster Linie halte ich es für äußerst wichtig, staatliche Strukturen in Libyen wiederaufzubauen, die neue Regierung Iraks zu unterstützen und allseitige Hilfe für Syrien zu leisten.

Wenn wir gemeinsam handeln, können wir die Welt stabil und sicher machen und die Bedingungen für die Entwicklung aller Staaten und Völker schaffen.