Wie der Rassismus im deutschen Alltagssprachgebrauch nistet
Der „Bufke aus der Polackei“
Am 21. August 2012 las man folgendes in der „Sächsischen Zeitung“: „Lautes Kinderlachen im Bautzener Spreebad. ,Das sind die Scheißrussen da drüben‘, sagt ein Mädchen, vielleicht 9 oder 10 Jahre. ,Warum sagst du Scheißrussen?‘, fragt eine Frau. ‚Weiß ich doch nicht‘, antwortet das Kind.
Wenig später im Elternabend einer 9. Klasse: Es geht um die Klassenfahrt. Eine Mutter schlägt eine Reise nach Krakau und Auschwitz vor. Da sagt ein Vater bestimmt: ,Meine Tochter fährt da nicht mit. Die lasse ich nicht nach Polen‘.“
Eine Meinungssondierung der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung ergab laut SPIEGEL: 22,7 % der Befragten bejahen die Aussage „Eigentlich sind die Deutschen anderen Völkern von Natur aus überlegen“.
„Sind die Polen fleißiger als wir?“, fragte ein Bundespräsident rhetorisch. Damit wurden in altbekannter Manier ganzen Völkern Charaktereigenschaften des Einzelmenschen zugeordnet.
Mir selbst ist solches widerfahren. Das Kriegsende erlebte ich als Kleinkind in einem Dorf, wo jeder wußte, was beim Nachbarn mittags im Essentopf war. Bei uns sehr oft gar nichts. Wir waren aus dem Memelland, heute Litauen, durch Befehl der faschistischen Verwaltung 1944 umgesiedelt worden und durch Zufall im sächsischen Vogtland gestrandet.
Ich wuchs heran, brauchte neben Nahrung auch Umgang mit Altersgefährten. Also ging ich ins Dorf, nicht ahnend, daß ich „anders“ und deshalb als Spielgefährte nicht willkommen, aber durch meinen ostpreußischen Dialekt als Fremder erkennbar war. Sofort erlebte ich tiefste menschliche Kränkung: „Hau ab, du Polacke, geh zurück in deine Polackei, wo du herkommst. Was wollt ihr hier? Freßt uns alles weg, haben selbst nicht genug.“ Ich spürte die Kälte, konnte sie aber nicht begreifen, weil ich ja nichts Böses getan hatte. „Was ist das, ein Polacke? Und wem fressen wir was weg?“, fragte ich meine Mutter. „Es ist ein Schimpfwort für die Polen. Und alles, was wir essen, haben wir durch meine Arbeit auf dem Rittergut. Wir stehlen nichts. Hör nicht auf die Bofkes …“
Also wehrte ich schwächliches, hungerndes, tief trauriges Kerlchen mich. Wenn die Kinder mich „Polacke“ schimpften (Erwachsene schauten und hörten schweigend zu), nannte ich sie „Bofke“, wie ich es zu Hause gehört hatte, obwohl ich bis heute nicht weiß, was dieser Dialektausdruck bedeutet. Die „Bofkes“ konterten im vogtländischen Dialekt, wo in der Sprache ein regelmäßiger Wechsel der Vokale von a zu o und dann zu u stattfindet. So wurde ich im Dorf vom „Bofke“ zum „Bufke“. Später war ich dann ein sehr guter Schüler und zur Kränkung aller das erste Kind des Ortes, das zur Oberschule ging und dann auch studierte. So war eben die neue Zeit. Etwa 60 Jahre danach, anläßlich eines Wiedersehenstreffens mit Klassenkameraden der Zentralschule, schlenderte ich durch mein Dorf, um zu sehen, ob sich etwas verändert hatte. An der öffentlichen Anschlagstafel sah ich deutlich ein Hakenkreuz, zwar übermalt, aber so, daß es erkennbar blieb. Ich grüßte, wie auf dem Lande üblich, jeden, den ich traf. Ein etwa gleichaltriger Mann unterbrach seine Gartenarbeit, blickte mich forschend an und fragte: „Soach emal, bist du net der Bufke aus der Polackei?“
Menschen mit verdorbenem Denken, deren Charakter frei von moralischen Werten ist, sind verführbare Zielobjekte gewisser politischer Kräfte für einfache, aber schmutzige Parolen. Immer noch (oder schon wieder?) versehen solche Ignoranten ganze Völker mit Charaktereigenschaften, fremde Völker mit miesen, denn die edlen Eigenschaften sind nur für das eigene Volk, also für die Deutschen, obwohl diese rassistischen Hetzer von den edlen Eigenschaften so weit entfernt sind, wie Rußland groß ist. So ist „der Russe“ brutal und versoffen, „der Pole“ klaut, weil er zu faul zum Arbeiten ist, wie „alle Neger“, die ihre Kinder zu Hunderttausenden verhungern lassen statt ihre Hände zu regen; „der Jude“ will durch sein Geld die Welt beherrschen; „Kameltreiber und Kanaken“ verdrängen die Deutschen, zunächst aus den Jobs und dann aus Deutschland und „der Islam“ aus fanatischen Bombenlegern und allen die Hände abhackenden Terroristen will uns in Moscheen zu Allah und Scharia zwingen. Natürlich dürfen in diesem menschenverachtenden, vergifteten Brei nicht Kommunisten und „Stasispitzel“ fehlen, die überall ihre Finger mit drin haben. In meiner Lausitzer Heimat kommt überdies auch noch die „Sorben-Mafia“ hinzu. Mit einem Wort beginnt alles, auch der Rassismus. Dieser aber ist ein Verbrechen.
Aufklärung ist notwendig. Die Menschen müssen begreifen, daß der Schoß, aus dem das kroch, noch fruchtbar ist. Es gilt, den Anfängen zu wehren. Es beginnt mit Worten wie „Polack“ und „Scheißrusse“. Am Ende steht die Parole „Ausländer raus!“
Zur Aufklärung aber gehört, daß jede euphemistische Verharmlosung als bloße Ausländerfeindlichkeit oder auch gewisse Kneipenwitze Gefahr signalisieren. Solche Worte sind blanker Rassismus. Jeder Deutsche sollte wissen, daß solches einst bis zur „Endlösung“ der Hitlerfaschisten führte.
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