Der Galgen von Nürnberg
An den 1. Oktober 1946 erinnere ich mich noch sehr genau. An jenem Tag fällte das in Nürnberg zusammengetretene Tribunal der vier Alliierten der Antihitlerkoalition nach Prüfung von 3000 Originaldokumenten, der unmittelbaren Anhörung von 200 Zeugen und den Plädoyers am Ende des als Hauptkriegsverbrecherprozeß in die Geschichte eingegangenen Strafverfahrens gegen Anführer der Mordbande Hitlers sein Urteil. In aller Welt wurde die Abrechnung mit einigen der schlimmsten faschistischen Rädelsführer begrüßt, auch wenn in manchen Fällen härtere Urteile erwartet worden waren. Ein Teil der am schwersten belasteten Nazi-Kriminellen wurde dem Henker überantwortet und später – von Göring, der wie zuvor schon Hitler, Goebbels und Himmler Selbstmord beging, abgesehen – zum Galgen geführt.
Während der 1. Oktober 1946 bei mir – ich war damals knapp 14 – vor allem Genugtuung auslöste, vermochte ich erst später, während des Jurastudiums und danach mit Normen des Völkerrechts vertraut gemacht, tiefer in die Problematik von Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Verbrechen gegen den Frieden einzudringen.
Nürnberg besaß eine solide Legitimation: Der Prozeß fußte auf den Beschlüssen der Londoner Viermächtekonferenz vom 8. August 1945 und dem durch die Alliierten beschlossenen Statut eines Internationalen Militärgerichtshofes.
Bemerkenswerterweise wurde in der fränkischen Metropole auch der klassenmäßige Hintergrund der faschistischen Untaten sogar von amerikanischer Seite auf gewisse Weise zur Sprache gebracht. In einem der Anschlußverfahren – es ging um den Fall Flick – erklärte Brigadegeneral Telford Taylor, der für die Vereinigten Staaten die Anklage vertrat: „Die Diktatur des Dritten Reiches stützte sich auf die unselige Dreieinigkeit aus Nationalsozialismus, Militarismus und Wirtschaftsimperialismus.“
In Nürnberg war US-Hauptankläger Robert H. Jackson zu dem Ergebnis gelangt: „Für alle Menschen mit gutem Willen und gesundem Verstand ist das Verbrechen, das alle geringeren Verbrechen umfaßt, das Verbrechen der Entfesselung eines widerrechtlichen Krieges.“
Da war es dann nur logisch, daß der Deliktkatalog des internationalen Rechts um diese alle Dimensionen sprengende Gewalttat – Verbrechen gegen den Frieden – ergänzt wurde. Aus gutem Grund laufen seitdem die juristischen Berater aller Kriege vorbereitenden oder anzettelnden Staatsmänner gegen die Fixierung dieses von ihnen wieder und wieder erfüllten Tatbestandes Sturm.
Mit der erstmals 1967 bei Rütten & Loening herausgebrachten Dokumentation „Der Nürnberger Prozeß“, die dann etliche Nachauflagen erlebte und bis heute als Standardwerk gilt, steht uns ein auf Kernaussagen beschränktes Konzentrat des 42 Bände umfassenden Verhandlungsprotokolls zur Verfügung. Im Vorwort zur 5. Auflage schrieb der Herausgeber – mein Vater Peter Alfons Steiniger, der viele Jahre Direktor des Völkerrechtsinstituts der Berliner Humboldt-Universität war – zu Bestrebungen rabiater Rechtsrevisionisten: „Und natürlich richten sich deren Versuche, das Nürnberger Urteil als einen Bruch des Rechts, als einen Akt der Willkür und Rache hinzustellen, vor allem gegen die zum ersten Mal praktisch gewordene Aburteilung von Verbrechen gegen den Frieden. Die Bestrafung der während des Krieges begangenen Verbrechen und der im Zusammenhang mit ihm verübten Verbrechen gegen die Menschlichkeit stößt auf eine nicht entfernt so heftige prinzipielle Kritik wie die Bestrafung des Verbrechens der Anzettelung des Krieges selbst.“
Übrigens wurde in Nürnberg nur einer der Angeklagten ausschließlich wegen Verbrechens gegen den Frieden verurteilt: Hitlers Stellvertreter Rudolf Heß, der sich am 10. Mai 1941 – kurz vor dem faschistischen Überfall auf die UdSSR – nach England abgesetzt hatte, um, wie es hieß, London für eine Waffenruhe im Westen zu gewinnen.
Aus dem Statut des Internationalen Militärtribunals ergibt sich eindeutig die individuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit für Angriffe auf den Weltfrieden. Hierzu stellte der Nürnberger Gerichtshof ausdrücklich fest: „Verbrechen gegen das Völkerrecht werden von Menschen und nicht von abstrakten Wesen begangen, und nur durch Bestrafung jener Einzelpersonen, die solche Verbrechen begehen, kann den Bestimmungen des Völkerrechts Geltung verschafft werden.“
Nach den in Nürnberg und Tokio ergangenen Urteilen wegen Verbrechen gegen den Frieden vermag sich niemand mehr auf Unkenntnis der Rechtslage zu berufen.
Das galt für die US-Präsidenten Lyndon B. Johnson und Richard Nixon, deren Air Force Vietnam in die Steinzeit zurückbomben sollte und auf deren Befehl die angebliche Entlaubungschemikalie Agent Orange eingesetzt wurde, die nicht nur unzähligen Menschen den Tod brachte, sondern auch bei Hunderttausenden Nachgeborenen entsetzliche Verkrüppelungen zur Folge hatte. Das galt für US-Präsident George W. Bush, der aufgrund fingierter „Beweise“ für Bagdads angeblichen Besitz von Massenvernichtungswaffen das irakische Volk mit Krieg und Tod überziehen ließ.
Und das gilt potentiell auch für US-Präsident Barack Obama, der Syriens rechtmäßigem Staatschef Assad den Einsatz von Chemiewaffen gegen die eigene Zivilbevölkerung unterstellte, den ohne Zweifel sogenannte Rebellen oder von der CIA gekaufte Provokateure in Uniform verübt haben – ein an „Gleiwitz“ und die Tongking-Golf-Affäre erinnernder Vorwand zur jederzeit möglichen Kriegsentfesselung. Nürnberg ist aktueller denn je. Möge sich niemand in der Illusion wiegen, von der sich die später Gehenkten zum Zeitpunkt der Begehung ihrer Verbrechen gegen den Frieden leiten ließen, daß es keine völkerrechtlich verbindlichen Instrumentarien zur Ahndung solcher Ungeheuerlichkeiten gibt!
Zu den Unterzeichnern des Statuts des Internationalen Strafgerichtshofes zählen übrigens auch die Vereinigten Staaten von Amerika.
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