Der gemeinsame Nenner
In mehr als 66jähriger Zugehörigkeit zur kommunistischen Bewegung habe ich gelernt: Wer Prinzipienfestigkeit mit sektiererischer Enge und Einigelung im eigenen Bau verwechselt und unfähig ist, das weitgespannte politische Spektrum in all seinen Nuancen zu erfassen, isoliert sich selbst. Vor allem muß man lernen, Dinge, die völlig unterschiedlicher Natur sind, nicht in ein und denselben Topf zu werfen. Bundesgenossen, mit denen man in wichtigen, aber keineswegs allen Fragen übereinstimmt, sollte man weder überfordern noch für sich vereinnahmen wollen. Es gibt entschlossene Kämpfer, die den ganzen Weg mit uns zu gehen bereit sind, aber auch ehrenhafte Menschen, die nur ein Teilstück gemeinsam zurücklegen wollen. Schließlich begegnen wir redlichen Andersdenkenden, die keineswegs dem Lager unserer Feinde zuzuordnen sind.
Die Marxisten unter uns haben im Sinne des Dreigestirns der Klassiker das Ziel eindeutig definiert: Ihnen geht es um die revolutionäre Überwindung des auf kapitalistischer Ausbeutung beruhenden „Wertesystems“ der Bourgeoisie, wobei sie sich von den gesellschaftlichen Realitäten, nicht aber von Wunschträumen leiten lassen.
In der DDR wurden nicht selten recht kleine Brötchen gebacken, aber eines vermag ihr niemand abzusprechen: daß sie dem Kapital und dessen Erfüllungsgehilfen vier Jahrzehnte lang in einem Drittel Deutschlands die politische Macht und das ausbeuterische Eigentum auf revolutionärem Wege entzogen hat. Das war der Kern aller ihrer Errungenschaften.
Zugleich aber stand dieses kleine, großartige Land für den Frieden in Europa und der Welt. Das war sein Markenzeichen Nr. 1. Nach dem Wegfall des Warschauer Vertragssystems sehen wir uns der latenten Gefahr eines dritten Weltkrieges gegenüber. Dabei gibt es zwei Gegenpole: den NATO-Kriegspakt mit den USA im Zentrum und das wieder zur Weltmacht aufgestiegene, zwar nicht mehr sozialistische, aber dem Imperialismus die Zähne zeigende Rußland, das heute so bedeutende Staatsmänner wie Putin und Lawrow würdig repräsentieren. Die Tatsache, daß nüchterne Planer in Washington die neue Weltmacht China mit ihrer Milliardenbevölkerung als Gegenkraft und möglichen Verbündeten Rußlands im Falle eines militärischen Konflikts in ihre strategischen Kalkulationen einbeziehen müssen, könnte zur Abkühlung überhitzter Gemüter beitragen. Die Anwesenheit des chinesischen Partei- und Staatschefs Xi Jinping und die demonstrative Teilnahme eines Kontingents der Volksbefreiungsarmee des Riesenlandes an der Freunde wie Feinde frappierenden Militärparade in Moskau zum Tag des Sieges waren ein Akt von höchster Bedeutung.
Heute brennt die Welt an allen Ecken und Enden. Besonders die Region des Nahen und Mittleren Ostens wird von einem Blutbad in das nächste gestürzt und ohne Unterlaß destabilisiert. Der Imperialismus hat in Gestalt des pseudoreligiösen Fanatismus von der Art des dem Zauberlehrling gleichenden IS einen neuen Faktor extremer Friedensgefährdung hervorgebracht. Teile Zentralasiens und Afrikas, aber auch Regionen Europas erleben Orgien brutalster Gewalt.
Unter diesen Bedingungen ist die Wiederherstellung oder Behauptung des Friedens die wichtigste aller Fragen. Die Stärkung der weitgefächerten Bewegung zu seiner Verteidigung besitzt dabei Bedeutung. Es handelt sich keineswegs, wie einige offenbar voraussetzen, um eine Allianz ausschließlich linker Kräfte. Kommunisten und Sozialisten sind deshalb die konsequentesten Kämpfer in ihren Reihen, weil sie hinter die Kulissen der Kriegemacher zu blicken und die Verursacher des Blutvergießens beim Namen zu nennen vermögen. Wer aber die Friedensbewegung – die breiteste und vielschichtigste Kraft zur Rettung der Menschheit – für sich vereinnahmen oder auf Ziele orientieren will, die weit über deren selbstgewählten Rahmen hinausgehen, verprellt nicht nur potentielle Verbündete, sondern sägt auch am eigenen Ast. Um es offen zu sagen: Wir müssen bereit sein, in der Allianz gegen den Krieg Menschen und Strömungen neben uns zu akzeptieren, die – wie beispielsweise „Friedenswinter“, den manche zu undifferenziert betrachten –, nicht aus der traditionellen Antikriegsbewegung hervorgegangen sind. Daß wir dabei nicht auf Leute wie Jürgen Elsässer abheben, versteht sich von selbst. Übrigens liegt es auf der Hand, daß professionelle „Fischer“ ihre Netze auch unter Friedensfreunden ausgeworfen haben dürften.
Jene aber, welche glauben, sie könnten die Spannweite der Friedenstaube dadurch ausdehnen, daß sie ihr rote Flügel verleihen, erreichen das Gegenteil des von ihnen Angestrebten und landen im politischen Ghetto. Man darf die Bewegung gegen den Krieg, um deren maximale Einheit gerungen werden muß, weil mehrere parallele Strömungen mit gleicher oder ähnlicher Zielsetzung stets weniger als eine sind, nicht mit der revolutionären Arbeiterbewegung oder der politischen Linken verwechseln, wobei Faschisten der Kampf angesagt werden muß.
Nach dem frühen Tod der Mutter bin ich bei meinem Vater aufgewachsen. Er gehörte von 1950 bis zu seinem Lebensende im Mai 1980 dem zunächst von Fréderic Joliot-Curie und später durch Romesh Chandra geleiteten Weltfriedensrat an. Von ihm weiß ich, daß Marxisten immer ein weites Herz für Menschen besitzen sollten, mit denen sie in erstrangigen Fragen übereinstimmen.
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