Der kleine Fuchs und die Ehrenregel
Kaum ein Tag vergeht, an dem wir nicht von brutalen Schlägern hören, die Wehrlose jagen, bereits am Boden Liegende gegen den Kopf treten, zu Tode prügeln.
Wir sind entsetzt über das Unrecht in der Welt. Warum schaffen wir es nicht, die Schändlichkeiten im eigenen Land zu bezwingen? Tiere beschämen uns!
Es war einmal ein neugieriger kleiner Fuchs. Eines Tages machte er sich heimlich davon. Er wollte alle Tiere höflich nach ihren Namen fragen und ihnen notfalls aus dem Weg gehen, denn Wölfe und Steinadler seien gefährlich, hatte die Mutter gewarnt.
Da begegnet ihm der Dachs. „Ah, schön gestreift“, staunt der kleine Fuchs, „bist du der Wolf?“ „Scher dich weg, sonst pack ich dich!“, knurrt der Gestreifte. „Ich bin ein Dachs und habe genug von dir und deiner Familie, deine Mutter hat sich in meinem Bau eingenistet, und ich mußte mir einen anderen graben!“ „Oh, Entschuldigung“, sagt der kleine Fuchs und läuft weiter.
Anschließend trifft er den Uhu. „Hast du aber schöne große Augen, bist du der Steinadler?“ „Mach, daß du verschwindest“, grollt der Uhu. „Im vergangenen Jahr hat mich dein Vater angegriffen, mir drei von meinen schönsten Federn ausgerissen, und ich habe ihm eins mit dem Schnabel versetzt.“ „Oh, dann seid ihr doch quitt!“ „Von wegen“, kreischt der Uhu und schlägt nach dem Kleinen. Der rennt weinend davon.
Am Ende begegnet ihm der Hase. „Warum weinst du, kleiner Fuchs?“ „Der Dachs hat mich weggejagt, der Uhu hat mich geschlagen. Ich wollte doch nur wissen, ob sie Wolf oder Steinadler heißen.“ Da sagt der Hase: „Hier am Rande der großen Stadt gibt es gar keine Wölfe und Steinadler. Doch vor den Menschen nimm dich in acht! Sie stellen uns nach. Manche reden nicht miteinander, schlagen Schwächere und achten andere nicht.“
„Wie meinst du das?“, fragt der kleine Fuchs. „Jedes Tier weiß, wenn zwei gegeneinander kämpfen, greift der Stärkere nicht mehr an, sobald der andere am Boden liegt.“
„Ja, das ist die Ehrenregel. Die Mama hat sie uns erklärt, als wir Geschwister miteinander gerauft haben. Wenn einer umfällt, am Boden liegt und seinen Bauch zeigt, wird er in Ruhe gelassen, denn er ist ja schon besiegt.“
„Es gibt Menschen, die zwar von Ehre reden, sie aber nicht kennen. Sie prügeln ohne Erbarmen und grundlos, ohne aufzuhören.“ „Haben die Tollwut?“, fragt der kleine Fuchs. „Das sieht nur so aus“, antwortet der Hase, „aber gegen Tollwut hätten sie ja geimpft werden können. Für sie gibt es einfach keine Ehrenregel. Wir Junghasen schauen auf unsere Eltern und lernen von ihnen: Was ist richtig, was ist falsch, welche Pflanzen darf man fressen, wo kann ein Schlafplatz angelegt werden, wie boxt und balgt man um ein Weibchen, wie schlägt man einen Haken. Kurz und gut: Wie benimmt man sich?“
„Haben Menschen keine Eltern, die ihnen erklären, wie man sich zu verhalten hat?“ „Doch, aber wenn diese es selbst nie gelernt haben, können sie es auch anderen nicht erklären. Und wenn Kinder nicht auf sie hören, sondern einfach weglaufen …“
Da wird der kleine Fuchs ganz verlegen, bedankt sich beim Hasen und hoppelt schnurstracks zu seiner Mutter zurück. Die hat ihn ein bißchen am Ohr gezaust, er aber hat gelobt, nie mehr wegzulaufen und die Ehrenregel „Wer am Boden liegt, wird nicht mehr angegriffen“, nie zu vergessen.
Er gelobte also, ein schlauer Rotfuchs zu sein.
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