Martyrium in 18 kirchlichen und staatlichen Heimen der BRD
Der Leidensweg des Lübeckers
Eduard Kastelik
Die Zwillingsbrüder Kastelik stoßen bei den Behörden auf eine Mauer aus Vertuschung und Schweigen.
Eltern geben ihren Kindern Erinnerungen und Gedanken mit auf den weiteren Lebensweg. Das Jugendamt Lübeck, welches bei Eduard Kastelik die Elternstelle vertreten sollte, hat bis heute alles unternommen, um ihm wirklich identitätsstiftende Erinnerungen vorzuenthalten.
Die Umstände seiner Geburt und der ersten Lebensjahre sind kaum nachvollziehbar, weil ihm der Zugang zu noch vorhandenen Dokumenten unter fadenscheinigen Vorwänden erschwert oder gar verwehrt wurde.
Fest steht, daß er am 29. März 1948 geboren wurde. Seine Mutter war mit der Versorgung der Zwillinge überfordert und bat deshalb das Jugendamt Lübeck um Hilfe. Daraufhin kamen Eduard und sein Bruder unter dessen Vormundschaft. Es unternahm jedoch keinen Versuch, der Familie, die inzwischen den Mann und Vater verloren hatte, materiell zu helfen. Für die Mutter unerreichbar, wurden die Kinder in ein Säuglingsheim nach Stuttgart verbracht. So begann die Mutter-Kind-Beziehung frühzeitig zu zerbrechen. Es folgte die ständige Verlegung in andere Heime, quer durch die ganze Bundesrepublik. Der Mutter wurde das Besuchsrecht so lange verweigert, bis sie nicht mehr wußte, wo sich die Kinder überhaupt befanden. Die Heime standen mehrheitlich in kirchlicher Trägerschaft. Erziehungsmittel der Betreuer waren Essensentzug, Schläge zu jeder Tageszeit, unbezahlte Arbeit nicht nur in den Heimen, sondern auch in Landwirtschaftsbetrieben der Umgebung. Seit dem 18. Mai 1953 war Eduard Kastelik im Kinderheim Weihe (Landkreis Harburg). Als Träger dieser Einrichtung galten die „Katharinenschwestern“ der katholischen Kirche von Münster. Kurze Zeit war er auch im Kindererholungsheim „Waldmühle“ in Braunlage (Harz), das sich in der Trägerschaft der Caritas Hildesheim befand. Hier sah er sich Übergriffen eines katholischen Priesters ausgesetzt.
Eduard Kastelik stellte im Mai 2014 dazu fest: „Die Hansestadt Lübeck und deren politische Vertreter tragen die Mitverantwortung für die an mir begangenen Verbrechen und schwersten Menschenrechtsverletzungen.“
In einem offenen Brief an Lübecks Bürgermeister Saxe schrieb das Opfer der BRD-Heimerziehung:
„Zu den Verbrechen, die an mir und anderen Lübecker Kindern verübt wurden, konnte es nur kommen, weil das Jugendamt seiner Aufsichtspflicht nicht nachgekommen ist. Bei ordnungsgemäß erfolgter Kontrolle hätte man unsere Verletzungen durch Schläge und unseren seelischen Zustand erkennen können. Schlagen und beten, das war gängiges ,Erziehungsmittel‘ der Nonnen. Für uns Kinder war es ein Alptraum, der bis heute zerstörerisch weiterwirkt.
Ein weiteres Fehlverhalten des Jugendamtes war die ständige Verlegung in andere Heime. Es ist für mich trotz endloser Nachforschungen nicht zu erkennen, warum niemand darüber gestolpert ist, daß ich in mindestens 18 Kinder- und Jugendheime sowie zu verschiedenen ,Pflegeeltern‘ gebracht wurde.
Ich habe keine Verbrechen begangen, ich war ein Kind. Ich war nicht bildungsunfähig, sondern mit guten Anlagen. Statt dessen wurde ich vom Säuglingsheim Schorndorf bei Stuttgart in das Kinderheim Weihe im Landkreis Harburg verlegt, von dort ins Kinderheim ,Waldmühle‘ Braunlage, danach in die ,Erziehungs- und Zuchtanstalt‘ Bernwardshof in Hildesheim, von dort in das Missionskinderheim Altenhof in Eckernförde. Danach ging es über fünf verschiedene Einrichtungen in Schleswig-Holstein zu einer ,Pflegefamilie‘ nach Paderborn. Das waren ganz spezielle Zeitgenossen, die wahrscheinlich immer noch von ihren Ostarbeitern aus der Nazi-Zeit träumten. Dementsprechend wurde ich behandelt: viel Schläge, viel Arbeit, wenig Essen und keinen Lohn.
Es würde den Rahmen dieses Briefes sprengen, wollte ich alle Stationen meines Leidensweges aufführen, doch eines hätte dem unvoreingenommenen Betrachter auffallen müssen: Das Hin- und Herverlegen durch die ganze Bundesrepublik diente nur dem Zweck, die begangenen Untaten zu vertuschen.“
Schon am 19. Dezember 2011 hatte der um sein Leben Betrogene eine eidesgleiche Erklärung abgegeben. „Hiermit bekräftige ich … gemäß § 155 Strafgesetzbuch, daß ich in den hier von mir aufgeführten Einrichtungen der freien Wohlfahrtspflege und in den anderen Örtlichkeiten von katholischen Nonnen und Priestern sowie sogenanntem weltlichem Personal zwischen 1953 und 1968 sexuell mißbraucht, psychisch gefoltert und physisch – z. B. durch Waterboarding – gedemütigt, beleidigt und gequält worden bin.“
Am 6. Februar 2013 ging bei Eduard Kastelik ein amtliches Schreiben des Lübecker Bürgermeisters Bernd Saxe ein, in dem es hieß:
„In unserem Gespräch haben Sie mich an Ihren persönlichen Erinnerungen teilhaben lassen. Als Mensch erfüllen mich Ihre Schilderungen über das Ihnen zuteil gewordene Schicksal mit Scham und Entsetzen. Über das abstrakte Wissen hinsichtlich der dunklen Seiten der Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren hinaus habe ich aus Ihren Schilderungen ein konkreteres Bild über die schlimmen Zustände der damaligen Fürsorgeerziehung erhalten.
Als Bürgermeister erwächst für mich aus Ihrer Lebensgeschichte der Auftrag, dafür Sorge zu tragen, daß sich die Hansestadt Lübeck an der Aufarbeitung der Geschichte der Heimerziehung aktiv beteiligt und alles dafür tut, daß sich derartige Unmenschlichkeiten in der Jugendhilfe nicht mehr wiederholen.
Im Namen der Hansestadt Lübeck bitte ich Sie für das erlittene Unrecht, soweit dies im Zusammenhang mit dem Handeln des damaligen Jugendamts stehen sollte, und die daraus entstandenen Folgen um Verzeihung.“
Hamburgs Senator für Arbeit, Soziales, Familie und Integration Detlef Scheele schrieb am 14. März 2013 an Eduard Kastelik:
„Als Vertreter des Senats der Freien und Hansestadt Hamburg möchte ich mich bei Ihnen für Ihr in der Kindheit und Jugend erlittenes Unrecht und Leid auf dem Gebiet der Freien und Hansestadt Hamburg entschuldigen.
Das an Ihnen begangene Unrecht ist nicht wiedergutzumachen. Sie haben Ihre Kindheit und Ihre Jugend verloren, und die Erlebnisse prägen auch Ihr Leben als erwachsener Mann. Ihre seinerzeit erlittenen Verletzungen sind tiefgreifend.“
Man könnte das Eduard Kastelik Angetane als schlimmes Geschehen vergangener Zeiten betrachten, sähen wir uns nicht weiterhin mit Vorfällen konfrontiert, bei denen der Mißbrauch kirchlicher Ämter und Institutionen eine gravierende Rolle spielt.
Das Material übermittelte und kommentierte Wilfried Link, Lübeck
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