RotFuchs 194 – März 2014

Der Löwenmut der Esther Bejarano

Bruni Steiniger

Eigentlich wollte sie nur eins: leben, einfach nur leben. Und das hieß, endlich auskosten dürfen, was die Jahre im KZ raubten – das grenzenlose Glück, atmen zu können ohne Angst, die Freude, sich frei zu bewegen, ohne den schußbereiten SS-Mann hinter sich zu wissen, zu spüren, ein Mensch zu sein. Nein, sie wollte nicht ständig erinnert werden an das Grauen, das ihr und Millionen anderen widerfahren war und was mit Worten kaum zu beschreiben ist. Sie genoß den Neuanfang und hoffte, dem Faschismus nie wieder begegnen zu müssen.

Die Rede ist von Esther Bejarano, der Sängerin, Jüdin, einer der letzten Überlebenden des „Mädchenorchesters“ von Auschwitz. Doch als Esther, die 1945 nach Palästina auswanderte und 15 Jahre später in die BRD kam, sah, daß die Nazis noch da waren, Flugblätter verteilten und auf andere mit Gummiknüppeln einschlugen, während die Polizei Demonstranten, welche sich der braunen Brut entgegenstellten, verhaftete, wußte sie, daß sie anfangen mußte, antifaschistische Arbeit zu machen. Das hält sie in ihren Aufzeichnungen fest, die im vergangenen Jahr vom LAIKA-Verlag Hamburg herausgegeben wurden.

Esther Bejarano begriff, daß sie nicht länger schweigen durfte. Sie ging zu Schülern, Lehrlingen, Studenten, zu denen, die unwissend waren. Und die Jungen hörten zu, aufmerksam und ernst, stellten Fragen, begannen nachzudenken. Die oft beklagte Barriere zwischen Jung und Alt gab es nicht. Erst recht nicht, wenn sie mit ihren jüdischen und antifaschistischen Liedern auftrat.

Wer ihre Konzerte erlebte, war begeistert. Da berührten ihr musikalisches und künstlerisches Können ebenso wie das große Repertoire, das von Klassik bis zu Volksliedern reichte, vor allem aber ihr Auftreten gegen das Wiedererstarken neonazistischer Kräfte in Westdeutschland. Zusammen mit ihren Kindern Joram und Edna gab sie Konzerte in Nürnberg, München, Bielefeld, Hannover, Hamburg und vielen anderen Städten.

Seit 2009 ist Esther Mitglied der Rap-Band Microphone Mafia – einer Gruppe, in der drei Generationen aus drei verschiedenen Religionen zusammengefunden haben. Was sie präsentieren ist keine Unterhaltungsmusik. Die Mitglieder der Band, die als „Menschen mit Migrationshintergrund“ am eigenen Leib Chauvinismus und Rassismus erlebt haben, wollen ein Zeichen gegen die Gleichgültigkeit vieler angesichts gesellschaftlicher Intoleranz, Diskriminierung und Ausgrenzung setzen. Die dem Buch beigefügte DVD vermittelt Ausschnitte eines gemeinsamen Konzerts sowie ein mit der Sängerin geführtes Interview.

Die Idee, die Erinnerungen Esther Bejaranos als Buch zu publizieren, entstand während eines Auftritts in Italien. Das Ergebnis ist ein leinwandgebundenes, mit vielen persönlichen und historischen Fotos bebildertes Werk, in dem nicht nur Esther, sondern auch jene zu Wort kommen, die das Projekt begleiteten. Antonella Romeo, eine italienische Journalistin, gibt Auskunft über das „Mädchen mit dem Akkordeon“ und hält die bewegenden Gespräche fest, die sie mit Esther Bejarano 2011 und 2012 führen konnte. Bei dieser Gelegenheit erfuhr sie von der Existenz der seit über 30 Jahren irgendwo verstauten, längst vergilbten Notizen, in denen Esther über ihre Kindheit, die Deportation nach Auschwitz und Ravensbrück, die Befreiung, das Leben in Palästina, die Rückkehr nach Deutschland und damit zum politischen und künstlerischen Leben berichtet.

Von der Publizistin Peggy Parnass stammt die Hommage über „eine große Frau“, in der sie das Bild eines politisch bekennenden und engagierten Menschen zeichnet – einer lebensbejahenden Frau, die Geselligkeit, gute Gespräche und kulinarische Genüsse liebt.

In einfühlsamer Weise stellt der an der Universität Turin lehrende Historiker Bruno Maida in einem Nachwort das persönliche Schicksal Esther Bejaranos in den geschichtlichen Kontext, was die Bedeutung der für Frieden und gegen neue Nazis eintretenden Künstlerin noch mehr ins Bewußtsein hebt.

Am 15. Dezember 2014 wird Esther Bejarano 90 Jahre alt. Bis heute ist sie dort zu finden, wo Menschen gegen das Vergessen, gegen Faschismus und Krieg zusammenkommen.

Antonella Romeo (Hrsg.):

Esther Bejarano
Erinnerungen

LAIKA-Verlag, Hamburg 2013, 208 Seiten
ISBN 978-3-944233-04-8

21,00 Euro