Der Präsident als Aschenputtler –
eine Kalendergeschichte
Ulrike Meinhof könnte heute Präsidentin von 200 Millionen Menschen sein! Wenn sie nämlich in Brasilien gelebt hätte. Dort ist vor drei Jahren eine ehemalige Guerillera, Dilma Rousseff1, die von der Militärjunta zwei Jahre in den Knast geworfen wurde, zur Nachfolgerin von Lula da Silva gewählt worden. Lula, ein kämpferischer Gewerkschafter, hatte in den vorhergehenden Jahren dieses bevölkerungsreichste und größte Land des Kontinents regiert. Bekanntlich stehen in noch zwei anderen lateinamerikanischen Ländern ehemalige Untergrundkämpfer an der Spitze des Staates: Fidel und Raúl Castro in Kuba und Daniel Ortega in Nikaragua. Auch in Afrika hat es mehrere Freiheitskämpfer wie Nelson Mandela gegeben, die nach Jahren im Untergrund und in den Gefängnissen der Kolonialherren Führer der befreiten Völker wurden.
Der Präsident, von dem ich erzählen will, wird den wenigsten Europäern bekannt sein, obwohl er, meine ich, außer einer ähnlichen Karriere, absolut erstaunliche präsidiale Verhaltensweisen aufweist. Der Mann heißt José M., genannt Pepe, und wurde im Jahr 2009 an die Spitze von Uruguay gewählt2. Dieses relativ kleine Land zwischen den Riesen Brasilien und Argentinien wurde auf Grund seines natürlichen Reichtums oft die Schweiz Südamerikas genannt. Aber auch dort herrschten stinkreich gewordene Grundbesitzer und Unternehmer, die sich diktatorisch regierende Machteliten hielten, um jede Veränderung der Eigentumsverhältnisse zugunsten der Bevölkerungsmehrheit zu unterdrücken. Zum Widerstand ermutigend wirkte die 1959 in Kuba gelungene Revolution.
José Alberto „Pepe“ Mujica Cordano
Junge Leute in Montevideo erinnerten sich an Tupac Amaru, den Häuptling, der mit seinen Inka-Kriegern das Land gegen die spanischen Usurpatoren verteidigt hatte und dabei umgebracht worden war. Und Anfang des neunzehnten Jahrhunderts hatte eine frühsozialistische Bewegung unter dem gleichen Namen gegen die herrschenden Großgrundbesitzer gekämpft. Nach diesen heroischen Vorbildern benannte sich die Stadtguerilla in der Hauptstadt Tupamaros. Ihnen wiederum wollten jene jungen Deutschen nacheifern – deshalb fiel mir gleich Ulrike Meinhof ein –, die als „Rote-Armee-Fraktion“ die politische Macht in der BRD gewaltsam umzustürzen versuchten.
José M. war einer der Gründer der Tupamaros in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts. In dieser Zeit beginnt die fabelhafte Karriere des Blumenzüchters Pepe und recht eigentlich diese Kalendergeschichte. Seine spätere und noch heutige Frau Lucia gehört als seine Compagnera dazu.
Widerstandskämpfer in den bürgerlichen Gesellschaften werden über kurz oder lang erschossen oder auf Nimmerwiedersehn im Gefängnis versenkt. Vierzehn Jahre hat Pepe dort überlebt, die längste Zeit ohne jede Lektüre in geisttötender Einzelhaft. Wer kann sich vorstellen, was eine solche Zeit in einem Menschenleben bedeutet, von der ich hier in zwei nüchternen Zeilen berichte?
1985, als in Uruguay die Militärdiktatur endete und wieder relativ demokratische Verhältnisse eingeführt wurden, kamen die Tupamaros frei. Auch José und seine Frau Lucia. Sie engagierten sich sofort in dem linken Bündnis Frente Amplio, das 1994 die Mehrheit gewann. Von ihm wurde der einstige Tupamaro Pepe ins Repräsentantenhaus geschickt und bald darauf zum Minister für Landwirtschaft ernannt. Der Blumenbauer als Minister. Er muß gute Arbeit für die Landleute geleistet haben, denn 2009 haben sie ihn zum Präsidenten gewählt!
Sein Leben erinnert mich an ein Grimmsches Märchen und ist doch die vielfach bezeugte Wahrheit: Auf Fotos sieht man ihn vor einem wellblechgedeckten Haus (drei Wohnräume, eine Küche), einer kleinen Hazienda vor den Toren Montevideos, mit seinem Hund, offener Arbeitsjacke und ausgetretenen Turnschuhen, einem alt gewordenen Schluffi mehr ähnelnd als einem Staatschef. Der alte Revolutionär (78) hat seine Herkunft auch als erster Mann des Staates nicht abgelegt, fährt privat einen alten Vauwee, und seine Staatskarosse ist ein Opel Corsa. Die Präsidentenvilla im exklusiven Punta del Este hat er versteigern lassen zugunsten des Baus von Arbeiterwohnungen und, man lese und staune, von seinem Präsidentengehalt, über zehntausend Euro, spendet er neunzig Prozent für soziale Hilfsvereine. Mit dem Rest käme er gut zurecht.
Ist das nicht ein auf den Kopf gestelltes christliches Nächstenliebegebot, für das schon zehn Prozent Opfer gottgefällig sind? Aber ein Frommer soll er nicht sein. Er sagt, er will sein Land gerechter gestalten und die Armut verringern – diese Aufgabe würde ihn bis zu seinem Tod in Atem halten. Ein Rauhbein sei er, wird berichtet, teilt seine Meinung ungeschminkt auch Inhabern höchster Ämter mit. Das sei wohl eine Folge seiner langen Gefängniserfahrung. Wer darüber die Nase rümpft, dem sagt er nur lächelnd: Ich bin, der ich bin.
Vielleicht ist die moralische Herausforderung eines solchen Lebens für uns Europäer so groß, daß wir lieber nichts von ihm wissen wollen?
- Dilma Rousseff wurde im Januar 2011 Präsidentin und im Mai 2016 aus dem Amt geputscht.
- Im März 2015 übergab José Alberto Mujica Cordano das Präsidentenamt an seinen Mitstreiter Tabaré Vázquez aus dem linken Bündnis Frente Amplio.
Weitere ebenso mutmachende und aktuelle Widerstandsgeschichten von Erasmus Schöfer sind enthalten in dem Bändchen „Kalendergeschichten des rheinischen Widerstandsforschers“, das zum 85. Geburtstag Schöfers erschien. Verbrecher-Verlag, Berlin 2016, 144 Seiten, 12,00 €
Gerne empfehlen wir außerdem den Film „Pepe Mujica – der Präsident“ von Heidi Specogna und Rainer Hoffmann. Piffl-Medien, Berlin 2014, 15,90 €
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