Was war das Außerordentliche am Außerordentlichen Parteitag?
Der Putsch in der Dynamo-Halle
Im September-RF hat Prof. Dr. Horst Schneider einen exzellenten Beitrag zum Streitgespräch zwischen Gregor Gysi und Hans Modrow über den Außerordentlichen Parteitag der SED-PDS, der im Dezember 1989 in der Berliner Dynamo-Halle stattfand und das Ende der DDR einleitete, veröffentlicht. Diese historische Filigranarbeit findet meine volle Zustimmung. Horst Schneider hat wohl recht, daß in seinem kurzen Beitrag etliche Fehlurteile aus Platzgründen nicht kritisch korrigiert werden konnten. Das damalige Geschehen würde ich aus heutiger Sicht als Putschparteitag bezeichnen, erwies er sich doch de facto als „Türöffner“ für den Sieg der Konterrevolution in der DDR. Dort herrschte ein unbeschreibliches ideologisches Durcheinander. Die von seinen Organisatoren als Wendepunkt in der SED-Geschichte gepriesene Veranstaltung erwies sich tatsächlich als Höhepunkt der Destabilisierung.
Vorbereitung, Ablauf und Folgen des Sonderparteitages belegen, daß er den Zerfall des sozialistischen deutschen Staates und seiner führenden Partei entscheidend vorantrieb. Diese wurde in SED-PDS umbenannt und verlor rasch an Einfluß in der Arbeiterklasse. Sie erlebte eine Erosion ohnegleichen. Nur ein Bruchteil der Mitgliedschaft blieb erhalten. Faktisch wurde mit der völligen Preisgabe der sozialistischen Staats- und Gesellschaftsordnung begonnen: Die Auflösung der SED-Grundorganisationen in sämtlichen Betrieben und Einrichtungen sowie der Kampfgruppen der Arbeiterklasse und die gewissenlose Entscheidung, die Genossen des MfS zum Freiwild zu erklären, waren gravierende Elemente der Umsetzung dieses Kurses.
Auf dem Sonderparteitag plädierte Gysi für einen „dritten Weg jenseits von stalinistischem Sozialismus und der Herrschaft transnationaler Monopole“. Damit wurde offen zum Verfassungsbruch aufgerufen und ein politisches Hasardspiel in Gang gesetzt, welches die DDR binnen weniger Monate in ein totales Chaos stürzte.
Die notorische „Besenaktion“ zur angeblichen Befreiung von „Altlasten“ verfolgte ein ganz anderes Ziel: Das marxistisch-leninistische Gedankengut sollte ein für allemal aus der Partei hinausgefegt werden. „Als die Einheit der Partei am nötigsten war, wurde sie zersetzt“, schrieb Horst Schneider am 24. Januar 2013 in der „jungen Welt“.
Die politischen Ambitionen des Klassengegners, der sich die Vernichtung der DDR zum Ziel gesetzt hatte, wurden entweder fahrlässig unterschätzt oder bewußt ausgeblendet. Dies erklärt auch die Tatsache, daß die Konterrevolution in der DDR so rasant zum Zuge kommen konnte.
Auf dem Parteitag war ein sehr widerspruchsvolles Phänomen zu beobachten. Während Gysi für einen „dritten Weg sozialistischer Prägung“ plädierte, beschloß man ein als Gründungskonsens bezeichnetes Statut. Dort nannte man die SED-PDS eine „marxistische sozialistische Partei“, deren „theoretische Grundlage … der Marxismus“ sei. „Unsere neue moderne sozialistische Partei stützt sich auf die Traditionen deutscher und internationaler Arbeiterbewegung“, hieß es. „Sie begründet ihre Politik durch die Erkenntnis der modernen Gesellschaftswissenschaften und führt das Werk von Marx, Engels und Lenin fort.“ Mit solcher Verbalistik mußte damals noch auf Hunderttausende marxistisch gebildete oder orientierte SED-Mitglieder Rücksicht genommen werden. Neue „Denkhorizonte“ eröffnete indes bereits ein Diskussionsstandpunkt des Arbeitsausschusses: „Unsere Partei stützt sich in ihrer Politik auf die modernen Gesellschaftswissenschaften. Sie wendet sich gegen jede Einengung der theoretischen Quellen.“ Während Gysi ohne Skrupel Eduard Bernstein in die Ahnengalerie der Partei einreihte, war vom „Modernen Sozialismus“, der bald darauf präsentiert wurde, noch keine Rede. Dieter Klein und Michael Brie hatten ihn aber bereits aus der Taufe gehoben. Mit Hilfe des unwissenschaftlichen Kampfbegriffs „Stalinismus als System“ wurde der Marxismus in der Folgezeit systematisch aus der Partei verdrängt und seine notwendige Weiterentwicklung nach zeitgemäßen Kriterien unterbunden.
Tatsächlich setzte man vor, während und nach dem Außerordentlichen Parteitag einen geradezu klassischen Parteiputsch in Szene. Die Zeit des großen Verrats an der DDR begann. Aus meiner Sicht erfolgte auf dem Chemnitzer PDS-Parteitag dann der „krönende“ programmatische Abschluß: die Geburt einer sozialdemokratischen Partei der besonderen Art. Horst Schneider hat bereits früher ganz Wesentliches zu deren „Gebrauchswert“ für die Bourgeoisie geschrieben. Er bestand darin, „die Herausbildung eines oppositionellen oder gar revolutionären Subjekts zu verhindern und das objektiv existierende Protestpotential in den Kapitalismus zu überführen“. (RF, März 2003)
Es ehrt den von mir geschätzten Hans Modrow, daß er heute als Vorsitzender des Ältestenrats der Partei Die Linke Marx nach wie vor seine Reverenz erweist. Ohne Zweifel ist die Zahl jener Mitglieder, Sympathisanten und Wähler der Partei Die Linke, die auch bei stürmischer See und aufgepeitschten Wogen ideologisch weiter Kurs zu halten bemüht sind, trotz allem nicht gering. Sie haben ihre am Leben geprüften marxistischen Erkenntnisse nicht – wie die „Helden“ der Dynamo-Halle im Dezember 1989 – sang- und klanglos über Bord geworfen.
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