Der „Rechtsstaat“ und sein Ex-Präsident
Es gibt inzwischen kaum einen Politiker, der auf gedruckte „Erinnerungen“ verzichten mag. Die einen haben – wie Willy Brandt und Franz Joseph Strauß – am Ende ihres Lebens versucht, den durch sie eingeschlagenen politischen Weg zu rechtfertigen. Helmut Kohl oder auch Michail Gorbatschow sind bemüht, sich noch zu ihren Lebzeiten Denkmäler zu errichten.
Motive dieser Art sind bei Christian Wulff nicht auszumachen. In seinem Buch „Ganz oben. Ganz unten“ schildert er kaum die ei-gene Vergangenheit und die Amtszeit im Schloß Bellevue, die nur 598 Tage dauerte. Er berichtet über seinen erzwungenen Rücktritt und den anschließend gegen ihn geführten Prozeß. Christian Wullf will Licht in die Arbeit der Ermittler bringen und die Vorwürfe bestimmter Meinungsmacher entkräften: „Mein Freispruch hat die mediale Vorverurteilung nicht aufwiegen können. Die Herstellung meiner Ehre im staatsbürgerlichen Sinn ersetzt nicht den Verlust meiner Ehre als öffentliche Person.“
Wulffs Anliegen ist es, sich vor der Allgemeinheit zu rehabilitieren. Die Fakten, die er anführt, gehen weit über eine private Abrechnung hinaus. Das trifft vor allem auf seine Polemik gegen „Bild“-Chefredakteur Kai Diekmann zu, der die Verleumdungskampagne gegen ihn eingeleitet hatte: „Wer bestimmt den Kurs in diesem Land, die ,Bild‘-Zeitung oder ein Richter am Landgericht Hannover?“, fragt Wulff.
Er hat folgendes zu beklagen: „Eine 24köpfige Ermittlergruppe des Landeskriminalamtes hat mein gesamtes Leben durchleuchtet. Bis in die Schulzeit reichen die Nachforschungen. Das Ergebnis ist in 30 000 Seiten Hauptakten niedergelegt. Am Ende wurde wegen des Verdachts der Vorteilsnahme beim Münchner Oktoberfest 2008 Anklage erhoben. Die Große Strafkammer beim Landgericht Hannover setzte 22 Verhandlungstage fest. Die Aufklärung der gegen mich erhobenen Vorwürfe dürfte insgesamt vier- bis fünf Millionen Euro gekostet haben. Der Ermittlungsaufwand … stand … schon bald in keinem Verhältnis zu den Anschuldigungen. Im Zuge der Ermittlungen wurden Grundrechte wie die Unverletzlichkeit der Wohnung, das Fernmelde- und Postgeheimnis, das Bank- und Steuergeheimnis, die Verschwiegenheitspflicht eingeschränkt.“
Der Leser merke auf: Dieser Ex-Präsident der BRD klagt nicht etwa den „Unrechtsstaat“ DDR an, sondern jenen selbstproklamierten Rechtsstaat, dessen oberster Repräsentant er war. Auch sein Urteil über die grenzenlose Allmacht der Presse in der BRD ist vernichtend: „Im Kampf zwischen Medien und Politik geht es … längst nicht mehr um die Feststellung von Schuld und Unschuld. Das Urteil ist gefällt, bevor der Prozeß be-gonnen hat.“
Der Leser erfährt, falls er das noch nicht wissen sollte, was in der Politik dieses Landes vonstatten geht: Parteitage seien „häufig Inszenierungen, bei denen im Vorfeld genau festgelegt wird, wer … zu welchem Zeitpunkt redet. Bereits die Tagesordnung ist ein Kompromiß mit Blick auf die Außenwirkung.“ Bemerkungen Kurt Biedenkopfs, Richard von Weizsäckers, Jürgen Trittins und anderer werden von Wulff als Beleg dafür angeführt, die Empörung seines Vorgängers Horst Köhler über den „Schweinejournalismus“ zu begründen. Übrigens verwendete auch Oskar Lafontaine diesen Begriff.
Hier hätte eine Recherche darüber Platz gehabt, wie Joachim Gauck mit maßgeblicher Hilfe von „Bild“ als Nachfolger des Gestürzten auf den Präsidentenstuhl gehievt worden ist.
Wulffs Buch erhält eine weitere Dimension, wenn wir es auf dem Hintergrund der Tatsache lesen, daß dieselbe Justiz und dieselben Medien, die der Ex-Präsident an den Pranger stellt, zugleich auch Ankläger und Richter über Zehntausende von den Inquisitoren der Gauck-Behörde gehetzte DDR-Bürger gewesen sind.
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