Der Sprößling aus dem Treptower Park
Im Sommer 2009 folgte ich einer seit langem ausgesprochenen Einladung nach Kaliningrad. Oft schon hatte ich Viktoria Briefe geschrieben und von ihr Briefe erhalten, wir hatten telefoniert und gegenseitig Grüße ausgetauscht. Ich freute mich sehr auf unser bevorstehendes Wiedersehen.
Im April 2005 hatten wir uns kennengelernt. Damals war ich von der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück als Betreuerin für die russischsprechenden Gäste eingesetzt worden. Die Gäste waren ehemalige Häftlinge des Frauenkonzentrationslagers. Viele darunter sind während des Krieges aus sowjetischen Dörfern und Städten verschleppt oder bei Kämpfen gefangengenommen worden. Über Sammellager und andere Konzentrationslager hat man sie schließlich nach Fürstenberg verbracht. Anläßlich der Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag der Befreiung fand an einem Abend ein Treffen einstiger Kinderhäftlinge statt. Viktoria gehörte zu ihnen. Sie wurde am 29. August 1944 im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück geboren.
Jelisaweta Tschernowa und Wassili Tschernow, 1943
Damals, 2005 und auch 2007, als ein zweites Treffen stattfand, an dem Viktoria in Begleitung ihrer Schwester Katja teilnahm, lernte ich zwei wunderbare Menschen kennen. Vika, wie ich sie alsbald nannte, war sehr zurückhaltend, bescheiden, höflich und hielt sich immer etwas im Hintergrund des Geschehens. Sie ist sehr intelligent, hat, wie ich später erfuhr, als Mathematiklehrerin gearbeitet. Die unmenschlichen Bedingungen im Lager haben jedoch ihre Gesundheit ruiniert. Noch weit vor dem Rentenalter war sie gezwungen, ihre Arbeit aufzugeben.
Wir beide kamen jedoch schnell ins Gespräch. Viele Frauen, auch die deutschen Gäste, hatten eine Menge Fragen an sie, wollten, daß Viktoria ihnen etwas über ihre Mutter, Jelisaweta Nikolajewna, und über ihren Vater, Wassili Iossifowitsch Tschernow, erzähle. Mit großem Interesse hörten wir ihren einfachen Worten zu. Ihre Aufregung bei den verschiedenen Interviews war zu spüren. Unsere Unterhaltungen auf den Wegen zu den einzelnen Veranstaltungen, bei Spaziergängen durch die Stadt und bei Exkursionen ins Umland waren ungezwungen, herzlich, einfach so, als ob man sich schon sehr lange kennen würde.
Nun stand meine Reise zu Vika und ihrer Familie bevor. Ich wußte, daß ihr Vater Wassili Tschernow in der Roten Armee gekämpft hatte und mit seinen Truppen bis nach Deutschland vorgerückt war. Am 8. Mai 1945 stand sein Bataillon unweit der Ortschaft Grabow, nur wenige Kilometer von dem Ort entfernt, wo seine Frau und Tochter schreckliche Tage und Monate im Konzentrationslager erleiden mußten und überlebt hatten! Damals wußte Wassili Tschernow jedoch nicht, daß sie ihm so nah waren. In seinen Büchern und Essays, wie „Der erste Monat nach dem Krieg“ und „Selbstbekenntnis einer Frontkämpferin“ schildert er seine Erlebnisse von der Front, berichtet er über seine Frontkameraden und widmet einen großen Teil seiner geliebten Frau Jelisaweta Nikolajewna. Ich wollte Wassili Tschernow mit einem kleinen Geschenk eine besondere Freude bereiten. Daher fragte ich Vika, was ich einem Mann wie ihrem Vater, einem Veteranen des Großen Vaterländischen Krieges, als Geschenk mitbringen könne. Obwohl schon längst Rentner, nimmt er noch immer Aufgaben im örtlichen Forstministerium wahr und arbeitete oft im Wald. Meine Frage an Vika war: „Soll ich ihm vielleicht eine Säge mitbringen?“ Ihre Antwort lautete: „Nein, keine Säge, Papa pflanzt hauptsächlich Bäume, er fällt sie nicht!“
Ich dachte nach und kam auf die Idee, zum sowjetischen Ehrenmal nach Treptow zu fahren – vielleicht fand ich unter den Platanen, die rings um das Ehrenmal am Wege stehen, einen Sprößling, nahe am Stamm eines großen Baumes. Zweimal ging ich die Wege links und rechts der Anlage entlang. Und ich hatte Glück, ich hatte schon fast die Hoffnung aufgegeben. Ein kräftiger Sprößling hatte es geschafft Wurzeln zu schlagen und Blätter auszubilden. Es war nicht einfach, ihn aus dem Boden zu ziehen.
Nun wächst er in russischer Erde zu einem – wie ich hoffe – starken Baum heran, zu einem Baum der Freundschaft zwischen den Menschen unserer beiden Länder, zu einem Baum des Friedens zwischen unseren Völkern.
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