Der Urmensch von Bilzingsleben
Ausgrabungsstätte Steinrinne, Bilzingsleben
Der 6. August 1974 war ein heißer Sommersonntag. Ich arbeitete damals als Student der Ur- und Frühgeschichte der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg im Sommerpraktikum auf der Ausgrabungsstätte Steinrinne bei Bilzingsleben im Landkreis Sömmerda. Die ganze Grabungstruppe war nach dem Mittagessen mit Pkws nach Kindelbrück zum Eis-Essen gefahren. Auf dem Rückweg wanderten die Nichtfahrer zum Gründelsloch, einer Erdfallquelle, und von dort zur Steinrinne. Spätnachmittags hatte Dr. Dietrich Mania die Idee, daß wir ja noch ein bißchen arbeiten könnten. Und während Mania ausgesiebten Sand kraftvoll auf ein Transportband schaufelte, hatte ich mich unlustig auf den Rand des einstigen Baches gesetzt, der sich in den grauen tonigen Schluff eingegraben hatte.
Ich gucke nach unten und sehe zwischen meinen Füßen eine handtellergroße Fläche mit Kalksinter, die meine beiden Vorgänger beim Ausgraben wohl vergessen hatten. Gedankenverloren greife ich nach einer nahe liegenden kleinen Spitzkelle und pieke in das Sinterstück hinein. Ich treffe auf etwas Hartes, das nachgibt. „Ein Schädelstück!“ denke ich. Ich heble das Stück aus dem Schluff (ein kleines Stück war beim Hineinpieken abgebrochen) und versuche mit der Kelle den anhaftenden Kalksinter von der Oberfläche abzuschlagen. Das Innere des Stückes gleicht dem Inneren des größeren Schädelstückes, das Mania erst ein paar Monate zuvor bei der Durchsicht älterer Funde entdeckt hatte. Ein glückstrahlender euphorischer Dieter lief damals schwitzend durchs hallische Landesmuseum, allen seine Entdeckung zeigend. „Dietrich“, rief ich zu dem schippenden Mania rüber. „Ich glaube, ich habe ein Stück Urmenschenschädel gefunden!“ Und: „Tobias (Töpfer) und Benno (Gramsch), kommt mal runter!“ Die beiden waren der Zoologe aus Halle und der Urgeschichtsmuseumsdirektor aus Potsdam, die in dem Quadranten vorher gegraben hatten. Dann expedierten sie die Teile in einen Mostrichbecher, die Köpfe dabei bedächtig wiegend. Und ich habe zu einem Studenten aus Leipzig gesagt: „Heute ist ein bedeutender Tag in der Ur- und Frühgeschichte, und du kannst sagen, du bist dabeigewesen.“ Am Abend, ich liege gerade in meinem Zimmer den Heinrich IV. lesend im Bette, da kommt der Rüdiger Stoile, ein grabungshelfender Junge aus Bilzingsleben, die Treppe heraufgestürmt: „Dieter, Du hast einen Homo gefunden, Du hast einen Homo gefunden!“ Ich bin dann mit rüber ins Haus der Litty Böttner, wo die Führungsgruppe wohnte. Es hatte sich herausgestellt, daß mein Stück A2 genau an das Hinterhauptteil A1 paßte. Große Gratulation! Im Verlauf der Grabungen sind dann noch weitere Schädelfragmente gefunden worden, wahrscheinlich von insgesamt drei Individuen stammend. Wir hatten damals Mühe, eine Flasche Rotkäppchen-Sekt zu bekommen, und haben den Fund auch noch an den restlichen drei Abenden meines Grabungspraktikums weidlich begossen.
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