RotFuchs 212 – September 2015

Warum sollte Rußland Napoleon und Hitler vergessen haben?

Der Westen verspielt den Frieden in Europa

Willy Wimmer

In diesen beiden Jahren 2014 und 2015 zieht wieder der ganze Schrecken des vergangenen Jahrhunderts an uns vorüber. Es sind die Jahreszahlen, die von den Verheerungen künden, 1914 und 1919, 1939 und 1945. Es ist eine fürchterliche Abfolge von Ereignissen, die man fortschreiben könnte, weil sie bis heute und weit in die Zukunft unser Leben bestimmen. In den Jahren 1989/90 schien das verheißungsvolle Bild vom „gemeinsamen Haus Europa“ mehr zu sein als nur eine vage Utopie. Verhandeln statt zu schießen und zu töten – das schien plötzlich möglich zu sein.

Rolf Hochhuth hat seinen 84. Geburtstag zum Anlaß genommen, am 1. April 2015 im Berliner Theater am Schiffbauerdamm vor dem 3. Weltkrieg mitfühlend und hinreißend zu warnen. Dabei muß man sich schon fragen, ob diese Worte wenige Meter weiter im Schloß Bellevue oder gar im Plenum des Deutschen Bundestages am 8. Mai 2015 gänzlich ungehört verhallt sein werden. Die bisherigen Reden in diesem Zusammenhang, die der Herr Bundespräsident, auch im vergangenen Jahr in Polen, gehalten hat, lassen dies wahrscheinlicher werden, als uns in Deutschland und Europa lieb sein kann. Die Stoßrichtung der für die Gedenkveranstaltung im Reichstagsgebäude am 8. Mai 2015 vorgesehenen Redner läßt zudem vermuten, daß gegen die Russische Föderation und vor allem den jetzigen Präsidenten Putin im wahrsten Sinne des Wortes „blankgezogen“ wird. … Es spricht alles dafür, daß wir unsere Chance nachhaltig verspielen. …

Ganz Europa hält die Luft an, wenn an Minsk zu denken ist. Europa hat nicht die Probleme gelöst, sondern nur Zeit gekauft, Zeit, die zwischen uns und einem möglichen Kriegsausbruch größerer Art in Europa liegt. Es ist die hohe Zeit der Propaganda, und man kommt aus dem Staunen nicht heraus. Dieses Staunen bezieht sich auf das deutsche und westliche Vorgehen in Sachen Ukraine seit Jahr und Tag, das in dem schändlichen Schweigen und der verwerflichen Untätigkeit in Sachen Maidan-Massaker, Brandopfer im Gewerkschaftshaus von Odessa und Verhalten m Zusammenhang mit den Hunderten von Toten beim Absturz der malaysischen Maschine über dem Territorium der Ukraine gipfelte. Ganz zu schweigen von dem Sturz einer zuvor noch verhandlungswürdigen und zudem frei gewählten ukrainischen Regierung, gegen die von innen und außen geputscht worden war.

Grafik: Gertrud Zucker
Grafik: Gertrud Zucker

Der Westen hat nicht nur gezündelt, daß es so gekracht hat. Nach deutschen Pressebildern bleibt das angebliche Auftreten amerikanischer Söldner in nachhaltiger Erinnerung, welche die Ostukraine im Frühjahr 2014 nach Kräften aufgemischt haben. Aber eine westliche und damit auch deutsche Verhaltensweise in diesem Zusammenhang ruft politisches Entsetzen hervor: die Fähigkeit nämlich, bei russischem Vorgehen das vorgeschaltete eigene Tun völlig vergessen zu machen. Es müßte den Verantwortlichen in Berlin doch zu denken geben, was die ehemaligen Bundeskanzler oder langjährige Brüsseler Größen zu der verheerenden westlichen Politik gegenüber der Russischen Föderation öffentlich haben verlautbaren lassen.

Was soll man in Moskau eigentlich denken, wenn man den Herrn Bundespräsidenten in Polen reden hört? Was soll man in Moskau tun, wenn nur eines nach Ende des Kalten Krieges eindeutig und klar ist: Die kalte Schulter gilt Moskau und der Russischen Föderation, dem heutigen Rußland. Man kann doch die Entwicklung seit 1992 nachvollziehen. Man wollte und will die Russen nicht am europäischen Tisch sitzen haben und schon gar nicht in einer eigenen Wohnung im gemeinsamen „Haus Europa“. Heute sind wegen der von uns im Westen konsequent verfolgten Politik nur zwei Dinge klar: In dem Land, das einfach nicht dazugehören darf, stellt man sich auf diese Lage ein, und die Verwerfungen bleiben innerstaatlich dann nicht aus. Das ist aber bei uns auch nicht anders, wie wir an den ständigen Aufforderungen zu höheren Militärausgaben durch die letzten beiden NATO-Generalsekretäre feststellen können. Nachdem die Menschen in Westeuropa durch die in den USA in Gang gesetzte Enteignungspolitik nur noch ärmer gemacht worden sind, soll jetzt das letzte Hemd für höhere Militärausgaben ausgezogen werden, die durch uns selbst verursacht worden sind.

Die Herren aus Norwegen und Dänemark sind im NATO-Wetterhäuschen seltsame Gestalten. Als die Not in Europa wegen eines befürchteten sowjetischen Angriffs besonders groß gewesen ist, glänzten diese beiden Länder mittels ihrer offiziellen Vertreter durch Fußnoten gegen NATO-Beschlüsse und Wegducken. Heute geht es ihnen nicht schnell genug, an der russischen Grenze das aufzuziehen, was schon Japan in den Krieg getrieben hatte: die erkennbar werdende Strangulierung durch Nachbarn, die zu Feinden werden. Wir mögen die Geschichte ausblenden wollen, obwohl sie uns immer wieder einholt. Warum sollte Rußland Napoleon und Hitler vergessen?

Und das Gedenken an all das Elend? Die „Süddeutsche Zeitung“ titelte am Ostersamstag treffsicher von einem „Mißbrauch des Gedenkens“ und meinte damit – das war überhaupt nicht zu ahnen und noch weniger als eine Überraschung – natürlich Moskau mit seiner Militärparade, an der in den letzten Jahren durchaus deutsche Bundeskanzler teilgenommen haben. Das Bild aus Moskau bot sich offenbar an, eine Rede im Deutschen Bundestag dagegenzusetzen. Jüngste Beispiele von solchen Veranstaltungen lassen vermuten, welchen Bildern man sich dabei aussetzen kann. Aber die „Süddeutsche Zeitung“ springt zu kurz. Im offiziellen Berlin bleibt es nicht bei einer Rede. Stilsicher wie immer läßt die Bundesverteidigungsministerin die Armee tanzen. „Alles Walzer“ heißt es am 9. Mai, dem Tag der Kapitulation der Wehrmacht vor der Roten Armee, beim „Ball des Heeres“ in Berlin, vermutlich in Berlin-Karlshorst.

Willy Wimmer in „Zeit-Fragen“ (April 2015), Zürich

Willy Wimmer war von 1978 bis 2009 in seinem Wahlkreis direkt gewählter Bundestagsabgeordneter der CDU, von 1985 bis 1988 verteidigungspolitischer Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, von 1988 bis 1992 parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesverteidigungsministerium und von 1994 bis 2000 Vizepräsident der Parlamentarischen Versammlung der OSZE. Er hat den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg der NATO gegen Jugoslawien 1999 öffentlich kritisiert und setzt sich wegen der wiederholten Völkerrechtsbrüche durch die USA und ihre NATO-Verbündeten unermüdlich für die Einhaltung des Völkerrechts ein, auf das auch Deutschland nach seinem Grundgesetz verpflichtet ist.