„Morning Star“: Corbyns Triumph ist ein Sieg für uns alle
Deutlicher Linksruck bei Labour
In Großbritanniens führender Oppositionspartei sind die Karten zur Freude sehr vieler, zur Überraschung mancher und zum Entsetzen nicht weniger neu gemischt worden. Bei der Führungswahl der Labour Party wurde der bis vor kurzem noch recht unbekannte Unterhaus-Hinterbänkler Jeremy Corbyn vom linken Flügel an die Spitze gestellt.
Der 66jährige errang für seine dem rabiaten Austeritätskurs der regierenden Tories David Camerons wie der liberal-sozialdemokratischen Orientierung von Tony Blair bis Ed Milliband den Kampf ansagende Politik einen spektakulären Erfolg. Bei der Befragung von etwa 600 000 eingetragenen Mitgliedern, Unterstützern und Labour angeschlossenen Gewerkschaftern entschieden sich 59,5 % für Corbyn. Der neue Labour Leader hatte seine drei Gegenkandidaten Ivette Cooper und Andy Burnham, die als „Erben“ des gescheiterten Milliband ins Rennen gegangen waren, und die prononcierte Blair-Anhängerin Liz Kendall weit hinter sich gelassen. Der auf den zweiten Rang gelangte Burnham erhielt weniger als ein Drittel der für Corbyn abgegebenen Stimmen. Dieser versprach, im Falle der Rückkehr seiner Partei ans Regierungsruder ursprünglich einmal in Staatshand befindlich gewesene und unter der Tory-Herrschaft Margaret Thatchers privatisierte Sektoren der britischen Wirtschaft wieder zu nationalisieren. Corbyn ließ wissen, daß er sich für „eine bessere und allen gerechter werdende Gesellschaft“ einsetzen wolle. Wie in Großbritannien üblich, mußte der siegreiche neue Labourchef auch seine unterlegenen Rivalen in das Schattenkabinett der Partei aufnehmen. Diesem gehören aber erstmals auch wieder mehrere Vertreter des linken Labourflügels an.
Der in London erscheinende Morning Star bezeichnete Corbyn als „inzwischen populärsten britischen Politiker“ und nannte dessen Wahl „einen Sieg für uns alle“. Die Welle der Sympathiebekundungen seitens breiter Schichten der britischen Bevölkerung habe die Labour-Rechten – von Lord Soley bis zum gescheiterten Londoner Bürgermeister-Kandidaten David Lammy – indes nicht daran gehindert, dem bei sämtlichen Umfragen schon bald favorisierten Bewerber bis zur Bekanntgabe des Corbyn-Sieges jegliche Erfolgschancen abzusprechen. Jetzt beschäme und frustriere sie das Ergebnis.
Der neue Labour Leader habe zweifellos die Absicht, dem Rechtstrend seiner Partei ein Ende zu setzen, bemerkte Kanadas „Global Research“. Auch die Pariser „Humanité“ würdigte den überwältigenden Sieg eines linken Labourabgeordneten. Die politischen Erben des früheren Premierministers Tony Blair habe das Abstimmungsergebnis entsetzt. Dessen bürgerlich-liberaler Kurs sei im Ergebnis der Mitglieder- und Anhänger-Entscheidung noch einmal nachträglich beerdigt worden.
Jeremy Corbyn, der Islington-Nord an der Londoner Peripherie im britischen Unterhaus vertritt, habe die Absicht, dem seit etwa 15 Jahren bei Labour geltenden Grundsatz, die Partei müsse einen „zeitgemäßen Kurs“ verfolgen, energisch zu begegnen. Er wolle Blairs Liberalismus, aber auch der schwankenden Linie seines Vorgängers Milliband ein Ende bereiten, urteilte „Humanité“.
Corbyn, dessen Popularitätsgrad bei jungen Leuten am höchsten ist, beruft sich nicht selten auf das „Britische Manifest von 1983“, das seinerzeit eine Spaltung der Labour Party auslöste. Der Hauptgedanke des Dokuments bestand in der Idee, alle von den Tories privatisierten Unternehmen wieder zu nationalisieren. Der rechte Labourflügel bezeichnete diese Position als „längsten Selbstmordbrief, der jemals geschrieben wurde“. Auf der Woge solcher Stimmungsmache gelangte Tony Blair 1997 an die Spitze der Partei und zog auch in Downing Street 10 ein. Seine einstigen Kassandrarufe sind offensichtlich inzwischen verhallt, stimmte doch die große Mehrheit der so oder so organisierten Labour-Anhängerschaft diesmal für einen Kandidaten, auf dessen Agenda gerade das von Blair geschmähte Ziel Priorität besitzt.
Übrigens – einer der ersten, die sich an der Themse unter Corbyns zahlreiche Gratulanten aus aller Welt einreihten, war der frühere griechische Finanzminister Yannis Varoufakis. Nach dem EU-Gewaltstreich gegen Athen hatte der Unterhausabgeordnete Corbyn die Feststellung getroffen, das derzeitige Europa gestatte keinerlei soziale Reformen. Er sprach sich im Unterschied zur rechtsgerichteten UKIP und zahlreichen Tory-Politikern zwar für den Verbleib Großbritanniens in der EU aus, fügte dem aber hinzu: „Im Rahmen eines besseren Europa gilt es, soziale Gerechtigkeit, nicht aber das Recht der Finanzgewaltigen durchzusetzen.“
Wie es aussieht, hat der buchstäblich über Nacht – einem Shootingstar gleichend – an die Spitze seiner Partei Gelangte durchaus Chancen, Labour bei den nächsten Unterhauswahlen zum Sieg und damit wieder ans Regierungsruder zu führen. Doch man sollte bei derlei optimistischen Prognosen die enormen Widerstände und das Potential der äußeren Gegner wie der innerparteilichen Widersacher Corbyns keineswegs unterschätzen. Von den Medien im Dienste des Kapitals, den Konservativen David Camerons und der noch weiter rechts stehenden faschistoiden UKIP schlägt ihm offener Haß entgegen. Schon jetzt zeichnet sich ab, daß ihn die Tories zu einer „Gefahr für die nationale Sicherheit“ erklären werden. Camerons Verteidigungsminister Michael Fallon äußerte unmittelbar nach Corbyns Wahl: „Das ist ein sehr ernster Augenblick für unser Land.“ Corbyns Führerschaft sei „die größte Herausforderung, der sich die Labour Party jemals gegenübergesehen“ habe, bemerkte der konservative „London Observer“.
Das mag durchaus zutreffen – allerdings eher im positiven Sinne. „Es ist die beste Chance für einen wirklichen Wechsel seit Generationen“, antwortete „l’Humanité“. Das nach wie vor linksorientierte französische Blatt fügte hinzu: „Glückwunsch, Jeremy! Wir wußten, daß Du es schaffen würdest!“
RF, gestützt auf „Morning Star“, London, „l’Humanité“, Paris,
und „Global Research“, Kanada
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