Deutsche Speerspitze in Litauen
Bundeswehrsoldaten auf einem Flugplatz in Litauen
Sein und Scheinen sind nicht dasselbe. Die Beschlüsse des NATO-Gipfels von Warschau im Juli 2016 belegen das: erhöhte Anstrengungen zur Bekämpfung des IS, Unterstützung der Bemühungen zur Eindämmung der Migration über das Mittelmeer mit der Operation „Sophia“ vor der Küste Libyens und Verlängerung des Mandats in Afghanistan. Beim Gipfel gab es Äußerungen führender NATO-Vertreter, so ihres Generalsekretärs Stoltenberg, die vernünftig erscheinen, so z. B.: „Der kalte Krieg ist Geschichte und soll es auch bleiben.“ Oder: „Wir handeln defensiv, transparent und angemessen.“ Und als Höhepunkt: „Wir werden den Dialog mit Rußland fortsetzen.“ Zu ergänzen wäre nur eine Kleinigkeit, sprich, das „Sein“ – das auf dem Gipfel Beschlossene – dem schönen „Schein“ gegenüberzustellen. Die NATO stationiert, entgegen ausdrücklichen einstigen Absprachen, „rotierende“ (aber trotzdem ständig präsente) kampfbereite Truppen in den Nachbarstaaten Rußlands.
Je ein Bataillon mit etwa 1000 Mann bezieht mit voller Bewaffnung Quartier in Estland, Lettland, Litauen und Polen. Die Einsatzqualität soll stets Elemente der Land-, Luft-, See- und Spezialkräfte umfassen. Die Bataillone seien eine Art „Stolperdraht“ für die von der NATO vielfach heraufbeschworene russische Invasion in seine Nachbarstaaten. Und sollte der Stolperdraht Signale aussenden, erfolge sofort Verstärkung durch die „Speerspitze“ der NATO. Die Führungsrolle in Polen übernehmen die USA, in Estland Großbritannien, in Lettland Kanada, und in Litauen, man höre und staune, ist es Deutschland. Betont wurde darüber hinaus auf dem Gipfel die Einsatzbereitschaft des die Sicherheit Rußlands verletzenden und von diesem scharf kritisierten Raketenschildes in Europa mit vier Schiffen, der Raketenbasis in Rumänien und der Ortungsanlage in der Türkei. Und die deutsche Bundesministerin für Verteidigung, Frau von der Leyen, setzte noch eins drauf. Deutschland stellt mit einer Kapazität von 13 500 IT-Spezialisten eine Einheit für den „Cyber- und Informationsraum“ auf.
Ganz nebenbei bereicherte sie bei diesem Treffen den militärischen Wortschatz noch mit einem neuen Ausdruck: Die Truppenverlegung in die russischen Nachbarstaaten sei keine Stationierung, sondern „Vornepräsenz“. Generalstabsausbildung alter Schule? Daß die USA als Führungsmacht der NATO den geplanten „Stolperdrähten“ und selbst dem angedrohten Einsatz der „Speerspitze“ kein volles Vertrauen schenken, findet seinen Ausdruck in der vorgesehenen Stationierung einer US-Panzerbrigade mit 5000 Mann und 250 Panzern in einem der Nachbarstaaten Rußlands, wahrscheinlich in Polen.
Die Speerspitze ist neuester Bestandteil der seit dem Gipfel 2002 in Warschau in mehreren Etappen aufgestellten NATO Response Force (NRF), der „Eingreiftruppe“. Sowohl die heute erreichte Einsatzstärke der NRF mit 40 000 Mann als auch die Bildung ihrer „Very High Readiness Joint Task Force“ (VJTF), eben der ganz schnellen Eingreiftruppe, der Spitze des Speers, gehen maßgeblich zurück auf die intensiven Bemühungen des deutschen Vier-Sterne-Generals Hans-Lothar Domröse, bis April 2016 Oberbefehlshaber des Allied Joint Force Command in Brunssum, Befehlshaber NATO für Ost- und Nordeuropa. Die VJTF, die neue und laut Berichten „superschnelle“ neue Speerspitze, eine rein europäische Truppe, geführt vom Deutsch-Niederländischen Korps in Münster, soll in der Lage sein, mit ca. 5000 Mann, davon 2700 aus der Bundeswehr, in 48 bis 72 Stunden weltweit (und damit auch an der russischen Grenze) den Kampf aufzunehmen. Selbst dem Laien sollte anhand dieser Daten deutlich werden, daß hier eine sehr ernst zu nehmende Bedrohung Rußlands entsteht.
Damit ist klar: Die Zeit der in den 90er Jahren ohnehin geringfügigen Reduzierung von Truppen und Bewaffnung ist beendet. Die Rüstungsindustrie schreibt wieder tiefschwarze Zahlen, energisch fordert das Verteidigungsministerium die zahlenmäßige und natürlich finanzielle Verstärkung der Bundeswehr. Mit dem soeben herausgegebenen Weißbuch 2016 läßt die BRD zudem ihre neue, unverhohlen auch auf militärische Mittel setzende Rolle im Ringen um die globale Mitherrschaft erkennen. (Siehe dazu auch die auf der vorhergehenden Seite begonnene neue RF-Artikel-Serie von Bernd Biedermann.) Unter Führung der „mächtigsten Frau der Welt“ scheut sich die Bundesregierung in eben dieser angespannten Situation nicht einmal, im Rahmen eines erneuerten Zivilschutzprojektes die eigene Bevölkerung zur persönlichen Vorsorge gegen Katastrophen und eine mögliche Gefährdung des bisher nur von Freunden umgebenen Landes aufzurufen. Die Bundesrepublik übernimmt – 75 Jahre nach dem 22. Juni 1941 – mit der Teilnahme deutscher Soldaten an der zunehmenden Einkreisung Rußlands eine Führungsrolle bei dessen realer Bedrohung. Geplant ist, zusätzlich zu den bereits weltweit laufenden Einsätzen der Bundeswehr ein weiteres Kontingent gerade dorthin zu entsenden, wo deutsche Soldaten schon mehrfach eingesetzt waren und nicht eben mit Ruhm bedeckt zurückkehrten, nach Litauen, in Richtung russische Grenze, in Richtung „Erzfeind“. Als Kern des deutschen „Bataillons“ wird bisher das Panzergrenadierbataillon 371 aus Marienberg/Sachsen genannt.
Litauen wird von keinem anderen Land bedroht, ausdrücklich auch nicht von Rußland. Warum es selbst den direkten Schutz der NATO anruft, bleibt dem neutralen Betrachter unverständlich. Für die Tatsache, daß gerade Deutschland seine Soldaten in dieses Land schickt, daß es damit erneut bereit ist, Rußland zu drohen und gegebenenfalls mit seinen Truppen russische Grenzen zu überschreiten, finde ich nur zwei Erklärungen. Die erste: Die tief sitzende Feindschaft der herrschenden Kreise der BRD gegen Rußland überwiegt die Erfahrungen aus allen gegen russische Lande geführten und immer verlorenen Kriegen. Es fehlt offenbar jede Vorstellung davon, wie Rußland selbst auf die geringfügigste Verletzung seines Territoriums gerade durch deutsche Truppen reagieren würde. Und die zweite: Deutschland unterwirft sich – völlig freiwillig und den Willen der eigenen Bevölkerung ignorierend – bedingungslos dem Willen der NATO und damit der vom militärisch-industriellen Komplex dominierten Führung der USA.
Mit der Entsendung deutscher Truppen nach Litauen, dem „Sein“ der aktuellen deutschen Sicherheitspolitik, widerspricht Deutschland geradezu drastisch dem schönen „Schein“ seiner im Weißbuch 2016 genannten Aussage: „Unser sicherheitspolitisches Selbstverständnis ist geprägt durch die Lehren aus unserer Geschichte.“
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