Das Fazit des marxistisch-leninistischen
Philosophen Hans Heinz Holz (1927–2011)
Die Alternative muß erkämpft werden!
Seit Herbert Marcuse geistert unter bürgerlichen Gesellschaftswissenschaftlern und revisionistischen Marxisten die These herum, die weltweite Entwicklung und Ausbreitung der Technik, also der moderne Stand der Produktivkräfte, habe die Klassengegensätze eingeebnet und die Arbeiterklasse ihrer geschichtlichen Funktion beraubt, Totengräber des Kapitalismus zu sein. Von der Konvergenztheorie der sechziger Jahre bis zur Globalisierungsthese heute ist das Argumentationsmuster gleich geblieben. Statt der Produktionsverhältnisse, deren Kern die Eigentumsverhältnisse sind, werden Teilelemente davon, z.B. Kommunikation, Verkehr oder Verwaltung als formationsbestimmend genommen und deren Homogenisierung als Aufhebung der gesellschaftlichen Antagonismen betrachtet. Daraus erwächst die Illusion, eine Harmonisierung der Interessengegensätze sei dauerhaft möglich, eigentlich gelte es nur noch, Irrtümer zu korrigieren und nicht mehr zu zerstören. Der Widerspruch zwischen Arbeit und Kapital sei aufgehoben. Marx sei also überholt – ein großer Ökonom des 19. Jahrhunderts, aber im 21. nicht mehr gültig. Und Lenin sei lediglich ein Theoretiker des Ersten Weltkriegs. Wenn aber alles vom einheitlichen Interesse des Finanzkapitals an der Erhaltung der bestehenden Ordnung geleitet ist, dann gibt es keinen Imperialismus mehr zu bekämpfen; allenfalls gilt es, der Herrschaft des Finanzkapitals Grenzen zu setzen. Kompromisse in der Eigentumsverteilung statt Klassenkampf zur Veränderung der Eigentumsverhältnisse.
Prof. Dr. Hans Heinz Holz lehrte an den Universitäten Marburg und Groningen.
Wer so denkt, denkt im Interesse der Kapitalisten. Daß Marx nicht überholt ist, sondern seine Analysen höchst aktuell sind, zeigt die Krise, in der wir uns befinden. Wer 1990 glaubte, Marx für tot erklären zu dürfen, sieht sich zwanzig Jahre später von Grund auf widerlegt. Und daß Marx nach 150 Jahren nicht ohne Lenin angemessen verstanden und angewendet werden kann, hat der hervorragende Aufsatz von Hans-Peter Brenner in der „jungen Welt“ vom 04.12.2010 deutlich gemacht. Er hat auch geklärt, daß der Imperialismus verschiedene Ausprägungen und Stadien hat, und daß er heute nicht dieselben Formen annimmt wie 1914 oder 1933.
Es gibt die übergreifende Form des Kapitalismus, der sich in den Phasen der frühen Industrialisierung, des Kolonialismus, der nationalstaatlichen Konkurrenz und der Konkurrenz der grenzüberschreitenden Konzerne verschiedene politische Gestalten oder Bewegungsformen schafft, die stets dem Gesetz der sich immer mehr beschleunigenden Kapitalakkumulation folgen.
Die von Lenin erkannte neue beherrschende Rolle des Finanzkapitals hat sich gerade in der gegenwärtigen Krise bestätigt. Daß sich die Konkurrenz der großen Kapitalien nach wie vor des Instruments einzelstaatlicher Machtausübung bedient und seiner bedarf, läßt sich an der gewalttätigen Erpressung der kleinen Staaten in der EU einerseits und am Konkurrenzkampf des deutschen und französischen Eurokapitals mit dem US-amerikanischen in Asien und Lateinamerika verfolgen.
Holzstich von Wladimir Andrejewitsch Faworski
Wir befinden uns in der hochimperialistischen Phase des Kapitalismus. Der Zwang für die großen Kapitalmächte, neue Märkte aufzubauen, um das eigene Investitionsbedürfnis zu befriedigen, hat zugleich die Entwicklung nationaler Bourgeoisien zur Folge, deren Interesse es ist, sich der Hegemonie der großen Mächte zu entziehen. Wie das politisch aussieht, können wir in Lateinamerika beobachten, wo die Tendenz, die Vorherrschaft des USA-Kapitals abzuschütteln, die Bildung scheinbar linksbürgerlicher Regierungen begünstigt hat. Ich sage scheinbar, denn weder in Brasilien noch in Argentinien, Ecuador oder Peru hat sich an der rigiden Ausbeutung bäuerlicher und proletarischer Schichten etwas geändert. Venezuela und Bolivien sind Ausnahmen. China nutzt den Investitionsdrang und Konsumbedarf der wirtschaftlichen Großmächte USA und EU als Import- und Exportland zu hohen Wachstumsraten und ist im Begriff, sich mit den Großmächten auf eine Stufe zu stellen. In Rußland entwickelte sich ein durch den Ressourcenreichtum des Landes gestützter Kapitalismus.
Es stehen sich nicht mehr zwei Lager gegenüber – das imperialistische und das sozialistische –, zwischen denen sich ein labiles Gleichgewicht herstellen konnte. Jetzt sind es vielmehr unterschiedliche Kräfte, die in Konkurrenz stehen und in merkwürdigen Mischungen und Überschneidungen, in Konflikten und Bündnissen miteinander verzahnt sind. Stellvertreterkriege werden in peripheren Regionen, aber auch an strategisch zentralen Punkten wie Afghanistan geführt. Vorfelder für eine globale Auseinandersetzung werden abgesteckt, von der man noch nicht weiß, wie die Fronten verlaufen werden. Manche Gurus der Wirtschaftsforschung und Börsenprognostik sprechen schon offen davon, daß Krieg der einzige Ausweg aus dem Krisenzustand des Kapitalismus sei.
Weltweit öffnet sich die Schere zwischen arm und reich immer weiter. Die Absatzzahlen und vor allem die Zielvorgaben der Industrie täuschen darüber hinweg. Kurzfristig profitieren sie davon, daß in den sich entwickelnden Ländern ein Mittelstand mit neuer Kaufkraft entsteht. Das aber ist eine kleine Schicht gegenüber dem Anwachsen der mehr und mehr verelendeten Massen. In den reichen Ländern wird dieser Prozeß zunächst nur als schmerzhafter Sozialabbau wahrgenommen, in großen Teilen der Welt bedeutet er aber nackten Hunger.
Lenin hat betont, daß es ohne revolutionäre Theorie auch keine revolutionäre Praxis geben kann. In der Tat haben wir eine zunehmende rebellische Stimmung, da und dort auch offene Empörung, aber keine organisierte revolutionäre Praxis. Arbeit an der Theorie, wie sie die Rosa-Luxemburg-Konferenzen der „jungen Welt“ leisten, ist heute ein unabdingbarer Bestandteil der revolutionären Praxis. Denn diese wird es nicht geben, wenn sie sich nicht um einen gedanklichen Kern herum ihrer selbst bewußt wird und sich bildet. Natürlich reicht die Theorie nicht, sie muß in Tathandlung übergehen. Als Handlung der Massen kann sie nur in organisierter Form wirksam sein. Eine starke revolutionäre Organisation ist als Kern revolutionärer Praxis unerläßlich.
Die Herrschenden wissen das offenbar bis jetzt besser als die Beherrschten.
Sie bereiten die Unterdrückungsmaßnahmen vor, schaffen die Instrumente dafür. Der Imperialismus ist überall mit dem Übergang zu faschistischen Herrschaftsmethoden verbunden
Generell gibt es in der Welt den Vorwand des Terrorismus zur Rechtfertigung von Polizeiwillkür. Imperialismus tritt uns nicht nur in der Form einer aggressiven Außenpolitik entgegen, sondern ebensosehr in der Form einer repressiven Politik nach innen.
Marx hat gelehrt, daß der Staat die Organisationsform der Herrschaft ist. Die bürgerlichen Staaten, auch wenn sie eine demokratische Verfassung haben, sind die Herrschaftsform der kapitalistischen Bourgeoisie. Sie sind die Diktatur des Kapitals. Erst im Kommunismus wird der Staat und damit die Herrschaft von Menschen über Menschen absterben. Lenin hat ausgeführt, daß der Staat das Feld ist, auf dem sich die Revolution vollzieht, als Übernahme der Staatsgewalt. Im Sozialismus ist der Staat noch nicht abgestorben, aber die Herrschaft von der Mehrheit der bis dahin Beherrschten übernommen worden, statt von einer Minderheit Herrschender. Unter dieser Bedingung kann das Absterben des Staates eingeleitet werden. Sagen wir es ganz klar, eine sozialistische Gesellschaft gibt es noch nirgendwo, bestenfalls Übergänge dazu.
Ob der Übergang gelingt, ist eine Frage des Klassenkampfs, der Eroberung und Ausübung der Macht durch das Proletariat. Die Diktatur des Proletariats ist der Anfang der Aufhebung der Diktatur des Proletariats. Wer diese Dialektik nicht begreift, muß erst noch lernen, wie wir zu kämpfen haben.
Daß allen Mißständen das System des Kapitalismus zugrunde liegt, ist eine über die unmittelbare eigene Erfahrung hinausgehende theoretische Einsicht. Die Informationsmedien – in den Händen der Kapitalmächte – tun alles, um diese Einsicht zu verhindern. Zwar ist die Manipulation nahezu universell, aber sie kann auf die Dauer nicht nachhaltig sein. Die Widersprüche drängen sich auf. Zur Sicherung der Kapitalherrschaft wird daher der Unterdrückungsapparat auf- und ausgebaut. Der Imperialismus bringt unausweichlich den Faschismus als politische Gewalt hervor und erzeugt die ihn stützenden oder von ihm ablenkenden Ideologien. Wesen und Rolle des imperialistischen, in den Faschismus übergehenden Staates sind illiberal, auch wenn sich der Imperialismus hinter dem Tarnwort Neoliberalismus versteckt.
Der Imperialismus des 20. Jahrhunderts fand seine Grenzen in der antiimperialistischen Weltmacht des sozialistischen Lagers. Dessen innere Zersetzung durch einen theoretischen und politisch-praktischen Revisionismus, der die Einpassung in das kapitalistische Weltwirtschaftssystem zur Folge hatte, brauchte dreißig Jahre. Bis 1989 waren dem Imperialismus durch die Zweipoligkeit der politischen Weltordnung Beschränkungen auferlegt. Der Klassenkampf wurde auf zwei Ebenen ausgefochten: zwischen den zwei militärisch-ökonomischen Machtblöcken und zwischen den nationalen Bourgeoisien und dem jeweils national organisierten internationalen Proletariat. Daß dieser Klassenkampf im Herzen des Sozialismus, der Sowjetunion, fürs erste durch den Sieg der Revisionisten verloren wurde, hat das Gesicht der Welt verändert.
Die Ereignisse seit 1990 demonstrierten, daß der Imperialismus nicht demokratisch zu zähmen ist. Die Zugeständnisse, die das große Kapital unter dem Druck, einer sozialistischen Weltmacht gegenüberzustehen, an die mittelständische Bourgeoisie und die Arbeiterklasse machen mußte, wurden Schritt für Schritt annulliert. Verarmung und Verelendung erwuchsen direkt aus der maßlosen Steigerung des Profits, für den es bei zunehmender Abdrängung der Menschen aus dem Produktionsprozeß gar keine profitbringenden Anlagemöglichkeiten gleichen Ausmaßes mehr gibt. Finanzspekulationen sind ein Ausweg, der über kurz oder lang immer wieder zur Vernichtung riesiger Vermögenswerte auf Kosten der arbeitenden Bevölkerung führen muß. Für eine Zeit verbinden sich dann die Interessen der mittelständischen Industrie und des Proletariats zur Abwehr des Imperialismus.
Aber machen wir uns keine Illusionen. Auch wenn die kleine Bourgeoisie unter dem Druck des großen Kapitals zu leiden hat und Opfer bringen muß, hängt sie an dem Schein des Wohlstands, den ihr der Kapitalismus vorgaukelt. Das Bündnis gegen den Imperialismus ist notwendig, aber labil. Reformen innerhalb des Kapitalismus führen nicht zu wirklichen Verbesserungen, weil das System seinem grundlegenden Bewegungsgesetz, der Akkumulation des Kapitals, folgen muß. Die Krise ist längst nicht mehr nur eine zyklische am Finanz- oder Warenmarkt. Sie hat unwiderruflich alle Lebensbedingungen erfaßt. Der Umweltzerstörung wird nicht Einhalt geboten. Die Regulierung der klimaverändernden Einflüsse versagt. Bei wachsender Weltbevölkerung werden die Energieressourcen erschöpft, für viele wird Wasser schon zu einer Rarität. Die Arbeitslosigkeit, vor allem die der Jugendlichen, nimmt zu, weil immer mehr menschliche Arbeitskraft durch Technik ersetzt wird. Das Bildungsniveau sinkt. Kenntnisse werden auf ihren Nutzen für die Kapitalverwertung ausgerichtet. Demokratie und Rechtsgleichheit unterliegen einem fortschreitenden Abbau und werden durch formelle Prozeduren ersetzt. Das alles sind Momente des Imperialismus, dem Stadium der allgemeinen Krise des Kapitalismus, der ökonomischen, ökologischen, sozialen, kulturellen, politischen Krise.
Ökonomische Krisen sind die Knotenpunkte in der Bewegungsform des Kapitalismus. Die allgemeine Krise ist mehr. Sie ist die Phase, in der die Funktionsmechanismen der Gesellschaftsformation in ihre Selbstzerstörung umschlagen. Das heißt nicht, daß der sich selbst zerstörende Kapitalismus automatisch in sein Gegenteil – den Sozialismus – übergeht. Die herrschende Klasse kann die Herrschaft erhalten, indem sie in die Barbarei verfällt. Die Barbarei auf der historischen Stufe der Zivilisation ist der Faschismus. Die Alternative dazu muß in revolutionären Aktionen erkämpft werden.
1920 konnte Lenin erwarten, daß sich kommunistische Massen organisieren würden. Und es gab einen Sowjetstaat, der ihnen Heimat war. Der Sieg über den deutschen Faschismus 1945 hat dieser Erwartung recht gegeben, aber nur teilweise. Der Revisionismus, der die Leninsche Erkenntnis verleugnete, daß sich der Aufbau des Sozialismus nur in schärfsten Klassenkämpfen vollziehen kann, und statt dessen einer sozialdemokratischen Harmonisierungsideologie folgte, gab dem Imperialismus die Chance eines Auswegs. Nun muß der Kampf gegen die Barbarei von neuem begonnen werden. Nicht die Situation von 1920 ist es, die wir heute meistern müssen. Aber von Lenin ist zu lernen, wie man mit einer Situation wie der heutigen umgeht.
Nachricht 873 von 2043