RotFuchs 217 – Februar 2016

Die Flüchtlingskrise aus historischer Sicht

Thomas Movtchaniouk

Völkerwanderungen hat es in der Geschichte der Menschheit immer gegeben. Als es den ersten Hominiden in Afrika zu voll wurde, haben sich einige von ihnen (wahrscheinlich gezwungenermaßen) aufgemacht, sich anderswo niederzulassen, und weil die Menschen vergleichsweise clevere „Tierchen“ waren, haben sie sich allmählich bis in die letzten Winkel verbreitet, bis in die Arktis und auf die Inseln im Pazifischen Ozean.

Wie der Karikaturist des „Economist“ den Empfang und den Einsatz von Flüchtlingen durch das europäische Job Center sieht.

Auch Krieg, Vertreibung, Unterjochung und Ausrottung hat es gegeben, seit die bewohnbare Erde erst einmal besetzt war. Die Neandertaler waren sicherlich auch nicht begeistert, als die „modernen“ Cro-Magnon-Menschen bei ihnen auftauchten, und auch die jungsteinzeitliche Megalith-Kultur ging unter, als sich die Indoeuropäer – Kelten, Germanen, Griechen, Römer, Slawen, Perser, Inder u. a. – ausbreiteten.

Die Germanen haben auf der Flucht vor den Hunnen das Römische Reich zerstört und so das finstere Mittelalter eingeläutet, das erst ein knappes Jahrtausend später endete. Auch den Sachsen mußten ihre heute so bitter verteidigten christlich-abendländischen Werte ursprünglich noch mit dem Schwert beigebogen werden.

Ackerbau und Viehzucht, Schrift und Zahlensystem und eben auch das Christentum haben wir aus dem Vorderen Orient, wo heute der Islamische Staat Angst und Schrecken verbreitet. Die muslimischen Länder und Gemeinwesen sind jetzt untereinander aber mindestens genauso zerstritten, wie es Deutschland zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges und Europa bis vor 70 Jahren noch waren. Sicherlich: Perser, Araber und Türken stammen aus einst expansiven Kulturen, so wie Engländer, Franzosen, Deutsche, Spanier und US-Amerikaner auch. Aber nach Hunnen- und Mongolensturm und den Türken vor Wien waren es eigentlich vor allem die Europäer, die andere Länder und Völker erobert, unterworfen und kolonisiert haben – in Sibirien und Amerika, in Afrika und Australien und schließlich sogar die uralten Hochkulturen in Asien wie Arabien, Persien, Indien und China.

Das historische Gedächtnis der meisten stolzen, um ihre hegemoniale Kultur so besorgten Deutschen, von denen sich etliche allzugern „konservativ“ nennen und doch nur reaktionär sind, reicht wahrscheinlich kaum weiter als bis zum Ersten Weltkrieg; der eine oder die andere mag dann noch wissen, daß schon Martin Luther gegen Juden und Türken gehetzt und dazu aufgerufen hatte, aufständische Bauern „wie tolle Hunde“ totzuschlagen. Urdeutsch ist offenbar die Angst vor „Horden“ aus dem Süden und/oder Osten, seien es nun „Ungläubige“ oder „Glaubensbrüder“ (aus Rußland, Rumänien, Serbien oder Nigeria). Die dulden wir nur, solange sie für „kleines Geld“ unseren Dreck wegmachen, unsere Kinder und Alten betreuen, unseren Spargel stechen und unser Vieh schlachten und im übrigen möglichst unsichtbar bleiben.

Aber heute kommen die Fremden nicht als Eroberer, sondern als Vertriebene; sie bilden keineswegs eine homogene Gruppe, sondern ein buntes Gemisch von Einzelschicksalen; und sie wollen „uns“ mitnichten vertreiben oder unterwerfen, sondern nur einen Platz zum Überleben finden, halbwegs menschenwürdig. Sie wünschen sich vielleicht, ein bißchen an unserem vergleichsweise höheren Lebensstandard teilzuhaben und dabei auch ein wenig von ihrer eigenen Kultur aufrechterhalten zu dürfen. Und da müssen kleinliche Bedenken wie die Befürchtung, der Immobilienwert des schmucken Eigenheims könnte darunter leiden, wenn nahebei eine Moschee oder eine Flüchtlingsunterkunft gebaut würde, zurückstehen.

Sicherlich: Viele von denen, die kommen, sind bisweilen zornige junge Männer, und vor denen habe auch ich manchmal Angst, gleich, ob sie nun als fremdländische „Ghetto-Gangster“ oder als alkoholisierte deutsche Hooligans daherkommen. Dennoch: Die heutige vernetzte Welt und die „Flüchtlingskrise“ haben mit den alten (und noch gar nicht wirklich überwundenen) Stammes- und Staatenkriegen von einst nicht mehr viel zu tun. Ein „Aufeinanderprallen der Kulturen“ gibt es so nicht mehr in der globalen Gesellschaft. Die Menschen aller Kontinente sind so informiert und mobil wie nie zuvor. Nun muß es darum gehen, sie auch menschenwürdig zu versorgen – und zwar dort, wo sie sind oder sein möchten.

Besitzstandswahrung wird nicht funktionieren – und es kann ja wohl auch nicht richtig sein, daß sich Europa jetzt nur die „Guten“, Jungen, Gesunden und Qualifizierten aus derzweiten und dritten Welt herauspickt und so wiederum andere Länder ausbeutet.

Vielleicht sollte man statt dessen die Reicheren und vor allem die Superreichen konsequenter besteuern oder teilweise enteignen und das Land wie die Ressourcen weltweit gerecht neu aufteilen …? Ein Mindest-Lebensstandard auf dem Niveau eines hiesigen Sozialhilfeempfängers (mit Nahrung, Kleidung, Wohnung, Heizung, Zugang zu sauberem Wasser und medizinischer Versorgung, Strom und Internetanschluß) wäre dann sicherlich schon heute für alle Menschen erreichbar.

Und wenn erst sämtliche Mittel, die derzeit durch Konkurrenz, Grenzsicherung, Bürokratie, Überwachung verschwendet werden, in einer mit- statt gegeneinander organisierten globalen Gesellschaft frei würden, könnte es vielleicht sogar gelingen, wirklich menschheitsbedrohende Gefahren wie regionale Überbevölkerung und Klimawandel gemeinsam abzuwenden.