RotFuchs 194 – März 2014

Über Toröffner hinter den Kremlmauern

Die „fünfte Kolonne“ in der KPdSU

Dr. Bernhard Majorow

Mit Nikolai Ryschkow, Jahrgang 1929, Bergmannssohn, Produktionsarbeiter und Ingenieur, seit 1956 in der KPdSU, 1974–1991 Abgeordneter, 1974–1982 Minister im Industriebereich, 1981–1991 ZK-Mitglied, 1985–1990 im Politbüro und 1985 –1990 letzter Ministerpräsident der UdSSR, stellt der zweithöchste Staatsfunktionär des europäisch-asiatischen Riesenlandes seine Sicht auf die Konterrevolution in der Sowjetunion dar. Der Autor beschreibt vorrangig Abläufe auf staatlicher Ebene und befaßt sich besonders mit den permanenten Brüchen des Staats- und Zivilrechts durch die Gorbatschow-Jelzin-Clique. Diese bezeichnet er als „fünfte Kolonne“ in der KPdSU. Er weist nach, daß die juristisch illegale Zerschlagung der Sowjetunion weder vom Volk gewollt war noch demokratischen Regeln entsprechend ablief.

Im Unterschied zu dem ebenfalls in deutscher Sprache vorliegenden Buch Jegor Ligatschows geht Ryschkow nicht auf Fragen der Ideologie ein, sondern befaßt sich vor allem mit den Mechanismen und Etappen des Hochverrats, wobei er dessen vorrangige Akteure beschreibt. Gorbatschow wird von ihm in seiner Anfangstätigkeit als von übermäßigem Ehrgeiz und persönlicher Eitelkeit zerfressener, angesichts gigantischer Probleme aber völlig hilfloser Politiker geschildert. Als Sowjetführer habe er sich als unfähig, feige und willenlos erwiesen, dem Zerfall der UdSSR entgegenzutreten. Sein vom Westen zielstrebig aufgebautes Renommé sei ihm weit wichtiger gewesen als die Einhaltung verfassungsmäßiger Pflichten. Nachdem die Perestroika de facto gescheitert gewesen sei, habe er die Flucht nach vorn angetreten und unter dem maßgeblichen Einfluß Alexander Jakowlews Schritt für Schritt die Vernichtung der KPdSU und der sozialistischen Gesellschaftsordnung der UdSSR angestrebt.

Ryschkow beschreibt den Besuch Gorbatschows bei Margaret Thatcher im Herbst 1984, der durch Jakowlew eingefädelt worden war, und fragt, wie ein Politbüromitglied der zweiten Reihe zu der außergewöhnlichen Ehre gelangte, von der Eisernen Lady auf deren Landsitz eingeladen zu werden. Gorbatschow legte dort seiner erstaunten Gastgeberin ein streng geheimes Dokument vor, in dem die Stationierung auf britische Ziele gerichteter sowjetischer Nuklearraketen verzeichnet war. Er tat das angeblich, um seinen leidenschaftlichen Abrüstungswillen zu demonstrieren. Doch so etwas gilt überall auf der Welt als Landes- und Hochverrat. Wer ihm das brisante Material allerdings zugespielt hat, bleibt offen.

Ryschkow, der Jelzin schon Jahrzehnte zuvor als Ersten Sekretär des Swerdlow-sker Gebietskomitees der KPdSU kannte, beschreibt diesen als ebenso skrupellosen wie unfähigen Machtpolitiker, der hemmungslos die Separatisten in den Unionsrepubliken wie später auch in den Autonomen Gebieten Rußlands zum Widerstand gegen Moskau aufstachelte. Nach seinem Machtantritt förderte Jelzin in unerhörter Weise deren gegen die Zentrale gerichtete Aktivitäten und billigte ihnen fast absolute Souveränitätsrechte zu, um Moskaus Einfluß systematisch zu untergraben.

Als Beispiel für Jelzins Maßlosigkeit und Arroganz beschreibt Ryschkow dessen Ankunft in einer westlichen Hauptstadt. Nachdem er die Gangway hinuntergeschritten war, drehte er dem Begrüßungskomitee den Rücken zu, verrichtete in Sichtweite zu diesem unter dem Flugzeug seine Notdurft, kam dann zurück und reichte seinen Gastgebern die Hand.

Der Autor ist bemüht, ein übersichtliches Bild von den verworrenen Vorgängen zu vermitteln: Bis 1988 funktionierte die Wirtschaft normal, weil die Perestroika zunächst nicht griff, sondern das alte System fortwirkte. 1989 erfolgte dann der Einbruch. Zusätzlich wurde eine Versorgungskrise durch destruktive Kräfte inszeniert, um die Bevölkerung gezielt gegen den Sowjetstaat und die Partei aufzubringen. Durchaus vorhandene Waren wurden einfach nicht mehr transportiert und verkamen, während man die Be- und Entladekräfte für deren Untätigkeit bezahlte. Das bestehende politische und wirtschaftliche System sollte als ineffektiv diskreditiert werden, um einer radikalen Privatisierung den Weg zu ebnen.

Die Perestroika sah bereits die Preisgabe von 40 % der Volkswirtschaft vor. Um den Widerstand gegen einen prokapitalistischen Kurs in der Gesellschaft zu brechen, wurde schrittweise ein politisches Gegengewicht zur schwächelnden Partei geschaffen: Ab 1986 stellte man landesweit die Strafverfolgung antisowjetischer Kräfte ein und entließ überführte Feinde der UdSSR aus der Haft. Mit diesem Beschluß, der alle Schleusen öffnenden „Pressefreiheit“ und der radikalen Umbesetzung der Redaktionen einflußreicher Zeitungen konnte man die Konterrevolution ungehindert organisieren. Auch wenn im Kongreß der Volksdeputierten noch etwa 80 Prozent der Abgeordneten KPdSU-Mitglieder waren, verließen nach der Medienkampagne und dem Entstehen einer Plattform der „demokratischen Opposition“ immer mehr Deputierte die Partei. Auch die ethnischen Konflikte kamen nicht von ungefähr. Sie diskreditierten systematisch die Zentralmacht und stärkten ihrerseits die rechten Kräfte in Partei und Gesellschaft.

Als im Sommer 1989 auf der Beratung der Ersten Sekretäre der KPdSU-Gebiets- und -Kreiskomitees – das Sekretariat und das Politbüro tagten fast nicht mehr und waren total zerstritten – der Niedergang unter Gorbatschow heftig kritisiert wurde, verhöhnte der Generalsekretär seine Kritiker und warf sie den gewandelten Medien zum Fraß vor.

Der infame Plan der Moskauer Parteispitze zeigte leider Wirkung: Das „totalitäre System“ mit Disziplin und „Gehorsam“ gegenüber der Zentrale wurde zerschlagen, die KPdSU obendrein.

Ryschkows Darstellung vermittelt wichtige Erkenntnisse über die von Kräften im Kreml geschickt konzipierte Konterrevolution und weist den Autor als einen standhaft gebliebenen Kommunisten aus.

Nikolai Ryschkow:

Mein Chef Gorbatschow
Die wahre Geschichte eines Untergangs

Verlag Das Neue Berlin, Berlin 2013, 256 S.
ISBN 987-3-360-02168-7

16,99 €