RotFuchs 195 – April 2014

Die Großtat der roten Buchenwald-Kapos

Gisela Karau

In seiner Ausgabe vom 8./9. April 2000 veröffentlichte „Neues Deutschland“ einen Beitrag von Gisela Karau zum 55. Jahrestag der Selbstbefreiung Buchenwalds. Wir bringen Auszüge aus diesem bewegenden und hochkarätigen Material.

Nach dem Überfall der Deutschen auf Polen (1939) geriet die Familie des Krakauer Rechtsanwaltes Dr. Zweig in das Räderwerk der Judenverfolgung. Die erste Station ihres Leidensweges war das Krakauer Ghetto. Dort wurde Stefan Jerzy 1941 geboren. Mit dem Baby, das der Vater im Rucksack trug, und der damals zehnjährigen Tochter Silvie wurden Helena und Harry Zacharias Zweig von einem Konzentrationslager ins andere getrieben. 1944 wurden die vier getrennt. Mutter und Tochter kamen nach Leipzig in die Munitionsfabrik Hasag und von dort, wie Dr. Zweig nach dem Krieg erfahren mußte, nach Auschwitz. Sie starben im Gas. Vater und Sohn landeten im August 1944 nach strapaziösem Transport im Viehwaggon auf dem Ettersberg. Damals war Stefan Jerzy drei Jahre alt. Ein kleiner, aufgeweckter Junge, der in eine fremde, feindliche Welt gestoßen war und nicht begreifen konnte, warum ihm das alles geschah. Bruno Apitz hat in seinem Roman „Nackt unter Wölfen“ die Rettung des Kindes als einen beispiellosen Akt der Solidarität von Häftlingen beschrieben, die mit der Verteidigung des unschuldigen Lebens ihre eigene Würde verteidigten. Der Autor mußte selbst Jahre in Buchenwald verbringen, und sein in viele Sprachen übersetzter Roman galt Millionen Lesern als poetisch verdichtete Wahrheit.

Nach der Zeitenwende kam aus dem Westen ein Herr daher, dem die Gedenkstätte anvertraut wurde, weil es ja in Weimar ein Wessi sein mußte. Für diesen Dr. Volkhard Knigge, Historiker, kühl bis ans Herz hinan, ist das Buch „arg überformt“, eine Legende, die den Widerstand der Männer um die „roten Kapos“ Willi Bleicher und Robert Siewert viel zu sehr heroisiere. „Wir müssen aufhören, uns solche Geschichten zu erzählen“, forderte er in einem ND-Interview, und er spreizte sich mit dem Wissen, das gerettete Kind verdanke sein Leben dem Tod eines anderen, das statt dessen auf die Liste gesetzt wurde. Er kennt sich aus in der Bürokratie des Terrors, der Doktor, und er scheut sich nicht, so etwas Niederträchtiges in die Welt zu posaunen, einem Angehörigen des Volkes der Juden den Gedanken aufzubürden, er lebe, weil ein anderer sterben mußte.

Stefan Jerzy Zweig rief mich aus Wien an, wo er mit seiner Familie seit den 70er Jahren zu Hause ist. Mit dem ihm eigenen Sarkasmus sagte er: „Eher hätte ich meinen Hund auf ein Stück Wurst aufpassen lassen, als einem Doktor Knigge eine Gedenkstätte anvertraut.“

Es gibt einen Tatsachenbericht, den der 1972 verstorbene Dr. Zacharias Zweig in Israel veröffentlichte. Den feinsinnigen Mann habe ich in den 60er Jahren kennen gelernt, als er in Berlin den Chefredakteur der „BZ am Abend“ Ernst Hansch besuchte. Die Zeitung hatte recherchiert, wo der Junge lebt, dessen Rettung Apitz so bewegend beschrieben hat.

Es stellte sich heraus, daß Juschu nach seinem Armeedienst in Israel nun Mathestudent in Frankreich war. Dieses Land hatte ihn, wie sein Vater schreibt, in verschiedenen Heilstätten fürsorglich behandelt, denn die körperlichen und seelischen Schäden des Jungen waren mit der Befreiung nicht überstanden. Er war lungenkrank, und er mußte mit der Tatsache fertig werden, daß Mutter und Schwester, von denen es nur noch ein paar Fotos gibt, auf denen sie lächeln, in der Gaskammer erstickt waren. 1949 bekam ihn der Vater mit der Versicherung zurück, das Kind sei nun zu einem normalen Leben fähig. Zusammen zogen sie nach Israel, Stefan Jerzy nahm die Einladung an, in der DDR zu leben und zu studieren. Der Entschluß, in ein deutsches Land zu gehen, ist ihm vermutlich nicht leicht gefallen. Er befürchtete wohl, daß ihm Dankbarkeit abverlangt würde und wehrte sich dagegen, bissig, aufsässig, kritisch. Doch er erkannte in der Republik das Erbe des Antifaschisten, und so akzeptierte er sie für einige Jahre als Wahlheimat. An der Filmhochschule in Babelsberg wurde er zum Kameramann ausgebildet. Seine Examensarbeit war ein Dokumentarfilm über die Mahn- und Gedenkstätte Buchenwald. Mit Robert Siewert fuhren wir auf den Ettersberg. Den Film unterlegte Juschu mit einer zu Herzen gehenden Melodie von Albinoni, ich höre sie bis heute. Er heiratete seine schöne blonde Französisch-Dolmetscherin Christa und bekam mit ihr zwei Söhne, Marc Daniel, geboren 1966 in Berlin, Thomas Harry, geboren 1973 in Wien. Ich sehe den stolzen Vater noch am Bett seines Erstgeborenen, durch die Gitterstäbe dessen kleine Hand haltend, bis das Baby eingeschlafen war. Das Bild berührte mich tief. Er war als Baby im Ghetto, ihm wurde die Kindheit gestohlen, um ein Haar das Leben, und nun wuchs den Mördern zum Trotz eine neue Generation der Zweigs heran.

Ich sehe wohl den Unterschied zwischen Realität und Roman. Doch nichts gibt es zu deuteln an der Rolle der tollen Kerle, wie Juschu sie nennt. Robert Siewert hatte mir erzählt, wie betroffen sie waren, als sie 1939 zum ersten Mal polnische Kinder sahen, die von SS-Männern mit Hunden ins Lager getrieben wurden. „Was geschieht alles im Namen Deutschlands?“, fragten sie sich, und die im illegalen Widerstand Verbundenen überlegten, wie sie, selbst ständig mit dem Tod konfrontiert, das Sterben der Kinder verhindern konnten. Juschus Rettung war eine in der Kette beherzter Taten, durch die Buchenwald in die Geschichte eingegangen ist. Buch und Film „Nackt unter Wölfen“ waren Erlebnisse, die wir in der DDR verinnerlicht haben. Besserwessis mit eingebildeter Sachkenntnis wollen uns im Übermut der Sieger alles in ihrem Geist umdeuten. Gerade das Bild von Buchenwald, dessen Häftlinge sich am 11. April 1945, kurz vor dem Eintreffen der Amerikaner, mit denen die Widerstandsorganisation im Funkkontakt stand, selbst befreien konnten, wird verzerrt und verunglimpft.