Rede Walther Victors zur
Einweihung der neuen Dresdner Synagoge
Die jüdische Botschaft heißt Schalom!
Die hier abgedruckte Gedenkrede hielt Walther Victor am 18. Juni 1950 in Dresden. Wir entnahmen sie den „Memoiren II“, die von der luxemburgischen Kulturzeitschrift „Galerie“ exklusiv veröffentlicht wurden. Ihr Verfasser schlug einen Bogen von der Zeit seines USA-Exils bis zum ersten Jahr des Bestehens der DDR, in die der Schriftsteller übersiedelte. Walther Victor sprach in einem zur Synagoge umgebauten jüdischen Gebetshaus in der Dresdner Friedrichstraße.
1967 schrieb der renommierte Literat die folgende Annotation zu seinem erst 2005/2006 veröffentlichten Text:
Dem Hitler-General und deutschen Massenmörder Göring wird das Wort zugeschrieben: „Wer ein Jud’ ist, das bestimm’ ich.“ In der Tat haben zwar er und die Seinen 6 Millionen Menschen jüdischer Religion oder Abstammung umgebracht, aber in seiner Luftwaffe hatte er u. a. einen leitenden Offizier jüdischer Abstammung. Auf der anderen Seite machten die amerikanischen Rassenhetzer und Monopolkapitalisten einen farbigen Staatssekretär Ralph Bunche zum Stellvertreter des Generalsekretärs der Vereinten Nationen. In der Tat macht der Klassenkampf vor keiner „Rasse“, vor keinem Volk halt. Im Staat Israel, der das „Welterobern“ ganz schön von den Faschisten gelernt hat, gibt es eine Kommunistische Partei, die auf dem Boden des Marxismus-Leninismus und des proletarischen Internationalismus steht, und in Afrika gibt es farbige Protagonisten des Kapitals, die dessen Kolonialpolitik mit Mord und Totschlag vertreten. Und dennoch ändern diese Tatsachen nichts daran, daß es noch heute Rassenhetze und Antisemitismus überall, auch bei uns, gibt, wenn man’s auch verbirgt und nicht offen zugibt …
Ich begab mich am 21. April 1916 an der Front des 1. Weltkrieges in die Schreibstube meiner Batterie und erklärte dort, daß ich nach dem Gesetz nunmehr „mündig“ sei und über mich selbst zu bestimmen habe. Aus Gründen, die ich in „Kehre wieder“ ausführlich geschildert habe, ersuchte ich, in meinen Papieren unter „Religion“ einzutragen: „religionslos“. Das ist nun mehr als ein halbes Jahrhundert so geblieben. Nachdem aber alle meine Angehörigen nach 1933 vergast oder sonstwie zu Tode gebracht worden waren und ich nach 1945 in ein Land zurückgekommen war, in dem ein ganzer Volksteil fehlte, war ich von dem Millionen-Massenmord so ergriffen, daß ich zusagte, als in Dresden die wenigen noch vorhandenen jüdischen Menschen ihren zerstörten Friedhof und ihr zerstörtes Gotteshaus wiederhergestellt hatten und mich baten, aus diesem Anlaß zu ihnen zu sprechen.
Hier ist, was ich am 18. Juni 1950 sagte:
An Tagen wie diesen hier, da man in festlicher Stimmung hohen Worten zu lauschen gekommen ist, gewinnt das Leben leicht die Gestalt des Unwirklichen. Die erbauende Rede erfüllt uns mit der schönen Gabe der Genugtuung. Aber wir haben damit nicht genug getan, und es sind nicht die wohlgesetzten Worte, die erbaut haben, was die erstaunten Augen sehen. Getan haben wir in jedem Falle zu wenig und zu spät! Und erbaut haben die Taten des Lebens. Auch die friedvollen Stätten des Todes sind ihr Werk. Und da wir uns zusammenfinden hier, wo ein neu erwachtes, noch einmal geschenktes Leben den Dienst Gottes erlaubt in Würde und heiligem Schutz, da diene das Wort der Schau auf unser Leben.
Wir kehren heute heim aus den höllischen Gefilden des Todes, der kein Leben kennt, in die Bezirke des Lebens, zu dem der Tod gehört: ein friedliches Leben, ein friedvoller Tod; aus der Welt des Lebens, das Krieg und Mord bedeutete, in die Bereiche des Todes, der Frieden ist und Neugeburt. Wir kehren heim, indem wir mehr haben, als daß wir unser Haupt niederlegen, unsere tägliche Kost und eine Luft, in der zu atmen ohne Gefahr ist. Wir kehren heute heim erst, da unsere Toten eine Heimat haben und unsere Lebenden nicht mehr heimlich zu ihrem Gotte rufen. Ist diese Stunde der Heimkehr nun nicht eine Stunde der Einkehr, so wird sie vergehen wie der Ruf, der in der Wüste verhallt, und die schönen Worte werden nichts erbaut haben als eine trügerische Mauer, die uns bald alle für immer begräbt.
Wir wollen nicht noch einmal durch die erbaulichen Klänge hohler Scheinwelten uns in Schlaf wiegen lassen, da ein waches Dasein von uns gefordert ist. Die Stunden, da wir im Feierkleide uns über den Alltag erheben, sind verloren und vertan, wenn uns ihre Worte und Gedanken nicht noch klarer, wenn uns ihre Erhebungen nicht noch klarer und wirklicher diesen Alltag erkennen lassen, da er weit unter uns zu liegen scheint, während er in Wahrheit vor uns liegt, brennend nah, alltäglich voller Pflichten, unabwendbar wie das höchste Gesetz.
Der wahre Dienst Gottes ist das für die Zukunft tätige Leben.
Es waren tätig für die Zukunft, die diese Stätte neu schufen. Es gebührt ihnen Dank. Aber ihr Tun kann nur die Frage stellen an das unsere. Was haben wir getan, und da es zu wenig, da es oft auch irrig war, was werden wir tun? Ist es nicht, liebe Freunde, der wesentlichste Fehler, unser wesentlichstes Mißverstehen des Dienstes an Gott, des Gottesdienstes, daß wir zu oft das berechtigte, das herzstärkende, das tröstliche Heraufbeschwören unserer durch die Zeitalter gehenden Geschichte, das Uns-einander-neu-Erzählen der alten Legenden und heiligen Fabeln, das Erheben unseres Bewußtseins durch die ständige Verlebendigung des großen Erbes unserer Väter, ist es nicht unser großer Irrtum allzu oft, daß wir die Pflege des Erlebnisses der Vergangenheit betreiben nicht neben, sondern anstelle des Lebens für die Zukunft?! Ja, daß viele von uns überhaupt nur rückwärts blicken und vermeinen, gerade sie dienten Gott?
Es ist in meinen Worten keine Absicht und kein geheimer Wille oder Plan. Es ist der Wunsch nur, daß diese unsere Gemeinschaft sein möge ein Ding der Zukunft. Daß sie haben möge eine Zukunft. Und es ist die leidige Wahrheit, daß gar zu viele eine Zukunft erwünschen, ja eine bessere, hellere, daß sie eifrig bereit sind zu klagen, wo Wolken den Zukunftshimmel zu bedecken scheinen, und daß sie selbst doch nichts tun, um die Zukunft zu schaffen, nicht nur zu denken; nicht nur zu beten, sondern auch zu bauen. Es sind die trauernden Litaneien der Vergangenheit, die ihnen geläufig sind, aber nicht die verkündenden Jubelhymnen der Zukunft. Sehen wir denn nicht, Freunde, daß wir durch die Zeiten gelebt haben, sich verändernde Zeiten, und jede hatte ein anderes Antlitz, jede ihrer Verfolgungen andere Formen, jede unserer Rettungen ein neues Gesicht?
Und müssen wir nicht anders, neue Menschen geworden sein oder werden, uns zu werden bemühen, wollen wir dem Leben und also Gott Gerechtigkeit tun? Die Kinder Israels hatten gestern Prüfungen ihrer Art, die Juden unserer Tage die ihren. Aber Juden von morgen werden nur sein, wenn sie das Morgen mit schaffen. Es genügt nicht, zu gedenken der Taten Makkabis. Sein Geist ist lebendig gewesen, sonst lebten wir nicht. Und in der sich verändernden Welt, deren Pulsschlag wir fühlen, müssen wir vorangehen, vorwärtsgehen unter den Hellsichtigsten, Makkabäer einer neuen Zeit.
Sind wir so sicher, daß die alte nicht wiederzukehren versuchen werde? Wetterleuchtet sie nicht an allen Ecken und Enden noch heute um uns herum? Dürfen wir hoffen, sie sei mit Mord und Vernichtung versunken, mit dem Mord unserer Brüder und Schwestern, mit der Vernichtung unserer Heiligtümer, könne nie neu erstehen? Sollen wir selig träumen, der Tempel stehe nun, ohne Sorgen, in Ewigkeit? Der Tempel steht nur, wenn wir ihn schützen; wir schützen ihn nur vor der Rückkehr der Sintflut von gestern, indem wir tätig leben, unser Leben Tat sein lassen für das Paradies von morgen. Und wenn auch die Völker, denen zugehörig wir leben, begreifen, welches die Stunde ist.
Möge das deutsche Volk die Zeichen der Zeit verstehen! Öffnet sich in ihm der Orkus der Judenverfolgung noch einmal, dann wird er das ganze deutsche Volk mit verschlingen! Schließt es den Gedanken von Würde und ewigem, gleichem Recht alles dessen, was Menschenantlitz trägt, in seinem Denken aus, dann wird es ausgeschlossen werden von der Zukunft für immer! Dort, wo man schon wieder die Messer wetzt zu neuem Weltmord, dort, wo gehetzt wird zu neuem Krieg und neuen Ruinen, gerade dort auch grinst uns die teuflische Maske des Antisemitismus, der Marter und Verfolgung von neuem entgegen. Möge das deutsche Volk begreifen: daß es nicht die Frage ist an unsere Existenz. Es geht um die seine.
Mögen aber auch wir Juden verstehen, was die Zeit verlangt! Man kann nicht hoffen, ein Haus wohnlich zu finden, das man vernachlässigt und indifferent den Unbilln der Zeit überläßt. Gehen wir nicht hinein, raten und taten wir nicht mit der Wohngemeinschaft, fühlen wir nicht, daß ihr Wohl das unsere, Pflicht ist, aktiv Teil zu sein an dem Werk des Aufbaus, der Sicherung eines neuen Lebens, decken wir nicht selbst eifrig alle Tage mit am Dach, dann stürzt es über uns ein und begräbt uns für immer. Der Friede in der Welt will erkämpft sein. Aber auch der Friede für Euch, liebe Freunde, will erworben sein, daß wir ihn besitzen. Und so viele Deutsche noch die alten Haßgefühle hegen, so fühlen viele Juden noch, es gehe ohne Liebe. Wir haben alle zu lernen oder zu leiden. Und dieser Tag, auf diesem Boden wiederholt sich nicht. Bauen wir auf dieser Erde nicht mit unseren Taten das neue Leben, schreiten wir auf dieser Erde nicht zu höherer Gesinnung, dienen wir auf dieser Erde nicht Gott, indem wir für die Zukunft tätig leben, dann wird sie sich auftun in ihrem gräßlichsten Abgrund und unser aller Ende sein.
Dienen wir also dem Leben! Wenn wir es nur recht tun, bleibt uns die Stunde des Kaddisch doch immer. Indem wir vor uns sehen im Dienste unseres Tages die Gärten einer Zukunft, in denen die Zelte der Menschheit friedlich nebeneinanderstehen, ist uns der Augenblick gestattet, wo wir, indem wir für unsere Söhne tun, an unsere Väter denken. Der meine taucht auf vor meinen Blicken – es kann wohl nicht anders sein in dieser Stunde! – ein Mann so kraftvoll und stark, daß er gesegnete 77 Jahre alt wurde, eine Gestalt solchen Trotzes in tätigem Leben, daß er alle Jahre des Mordes mitten im Lande des Mordes bis zum Jahre 1945 aufrecht durchlebte, daß er noch das Donnern der roten Freiheitskanonen vernahm, bevor der Mord ihn unter die Erde brachte. Ich kenne ihn nicht anders als aufrecht und vorwärtsstrebend über Widerstände hinweg. Und darf ihn gerade darum erinnern in dieser Stunde, wie er mit mir zum alten Tempel ging, der Chasen ihm den Platz abtrat, den Tallis weit über den Kopf sich warf und sich niederbeugte in langem Schweigen. Ich mochte wohl dastehen und warten und denken und lauschen, denn nun hörte ich ihn murmeln, nun klang immer deutlicher der Nigen auf des ersten Gebetes, in das er die kleine Gemeinde führte, bis lauter und lauter, zuletzt jubelnd und siegesgewiß die Lieder erklangen seines gläubigen Wissens … Ja, wir denken der Toten, wir gedenken ihrer gerade heute, da wir eine Tat des Lebens dankbar empfangen. „Die Toten bleiben jung“ nannte eine deutsche Dichterin von heute ihren großen wichtigen Roman.
Sie bleiben auch für uns jung, wenn wir sind wie jener alte Mann, der tot ist und doch so sehr immer das Leben war. daß seine Kraft, daß sein Tatendrang, daß seine Zukunftsgerichtetheit noch alle Tage in seinem Sohne Tat wird. Höre Israel, sagt der Gebetsruf, und er schließt mit dem Worte echod, ewig. Ja, hört den Ruf nach über uns selbst hinaus fortzeugender Tat, nach dem Geist der Jugend, die uns wissen läßt, daß unsere Toten nicht umsonst gestorben. Daß sie jung bleiben in unserem Werk für eine Welt des Friedens, der Menschenwürde, der fortschreitenden Erfüllung unserer Träume, in diesem Werk, das der wahre Dienst Gottes ist.
In diesem Sinne, Freunde, weihen wir dieses Haus erneut. Mag es die neue Welt sehen im Geiste des Grußes, den wir sagen, schon immer sagten, wir Juden, ja auch, ja gerade wir deutschen Juden: Schalom! Frieden!
Nachricht 1433 von 2043
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