Ein Sammelband über die Geschichte der DDR-Staatsanwaltschaft
Die Justiz der anderen
Wer den Charakter eines Staates kennenlernen möchte, studiere dessen Rechtsgeschichte! Sie belehrt in konzentrierter Form über seine Klassennatur. Das betrifft die beiden deutschen Staaten zwischen 1949 und 1990 lehrbuchmäßig: Ihre Rechtssysteme waren unvereinbar. Die bundesdeutschen Eroberer, Repräsentanten des „Rechtsstaats“ schlechthin, erwogen 1990 deswegen, sämtliche juristischen Akte des ostdeutschen „Unrechtsstaates“ für ungültig zu erklären. Sie machten gerade noch Halt, sonst hätten sie z. B. sämtliche Ehen und Scheidungen, die Beurkundung von Geburt und Tod oder privaten Hausbau und Grundstückserwerb rückgängig zu machen gehabt. Allerdings schufen sie sich u. a. mit der Treuhandanstalt eine Einrichtung, deren Agenten durch einen Brief des damaligen Bundesfinanzministers Theo Waigel (CSU) von jeder Strafverfolgung freigestellt wurden. Bundesdeutsche Rechtsfreiheit ist aber selbstverständlich kein Unrecht. Die DDR war der Bundesrepublik nicht nur in dieser Hinsicht an der Schaffung von zeitgemäßem Recht voraus.
Das betrifft auch die DDR-Staatsanwaltschaft, wie die 24 Beiträge in dem von Hans Bauer und Gudrun Benser herausgegebenen Band „Staatsanwalt ohne Robe. DDR-Staatsanwälte im sozialistischen Rechtsstaat“ belegen. Über „kaum ein anderes Staatsorgan der DDR besteht so viel Unkenntnis wie über die Staatsanwaltschaft“, erläutert der Strafrechtler und Rechtsanwalt Erich Buchholz in seinem Nachwort, der selbst mit zahlreichen Schriften zur Erforschung der DDR-Rechtsgeschichte beigetragen hat. Sie gelte entweder „als eine Abart der bundesdeutschen oder – völlig falsch – als eine Imitation oder Kopie der sowjetischen“. Das illustrieren die Texte des Bandes sehr plastisch, angefangen mit den Erinnerungen jener Generation von Antifaschisten, die zumeist zwischen 1900 und 1920 in Arbeiterfamilien geboren, nach 1945 noch in der Sowjetischen Besatzungszone in der Justiz neu anfingen – konfrontiert mit astronomischen Zahlen an Straftaten. Diese gingen in gut zwei Jahrzehnten von etwa 500 000 auf 125 000 (1970) zurück und blieben anschließend auf diesem Niveau. In der DDR kamen in den 80er Jahren auf 100 000 Einwohner 740 kriminelle Handlungen, in der BRD waren es 5600 bei 3,5 Millionen insgesamt. 2012 wurden in der erweiterten BRD sechs Millionen Straftaten registriert. Dabei muß man jedoch die unterschiedlichen Zählweisen der Kriminalstatistik beachten, was den Vergleich schwieriger macht.
Die Staatsanwaltschaft der DDR hatte, dafür werden in diesem Band zahlreiche Beispiele geliefert, beim Zurückdrängen der Kriminalität großen Anteil. Die Ermittlung und Verfolgung von Verbrechen machte lediglich fünf Prozent ihrer Tätigkeit aus. Staatsanwälte in der DDR waren nicht wie in der BRD „reine Strafverfolgungs-, Anklage- und Vollstreckungsbehörde“. Sie befaßten sich vielmehr vor allem mit Prävention, mit der Aufsicht über die Einhaltung von Gesetzen etwa in der Wirtschaft und mit der Kontrolle und Anleitung gesellschaftlicher Gerichte, die geringfügige Vergehen im Arbeits- und Wohnbereich behandeln durften. Die Mitwirkung von Kollegen und Nachbarn möglicher Delinquenten bei Verfahren, die Rechtsinformation der Bürger insgesamt, betrachten die Autoren mit Recht als ein Stück demokratischer Praxis, das in der BRD unvorstellbar ist.
Selbstverständlich hatte die DDR-Justiz ihre besondere Geschichte – von einer „Überbetonung des Strafzwangs“ in den 50er Jahren hin zur „Zurücknahme der repressiven Justiz“ ab den 60ern, wie es hier heißt. Die Autorinnen und Autoren lassen nicht aus, daß es von der Staats- und Parteispitze der DDR in deren Anfangsjahren Eingriffe in Prozesse gab. Im allgemeinen aber habe es kein Hineinreden gegeben, entsprechende Versuche konnten, wie ein Magdeburger Staatsanwalt schildert, abgewehrt werden – wenn man Rückgrat besaß.
Der völlig gegensätzliche Charakter der Rechtssysteme von DDR und BRD spiegelt sich vor allem in der Verfolgung von Nazi- und Kriegsverbrechen wider: Etwa 13 000 Verurteilungen in der DDR standen 6500 in der BRD gegenüber. Der niederländische Jurist Christiaan Rüter, ein Experte für die Aufarbeitung von NS-Prozessen, nannte das 2010 in einem Vortrag vor dem Berliner Kammergericht, wie hier zitiert, einen „Unsere-Leute-Mechanismus“, der im Westen gewirkt habe.
Wohl wahr. In diesem Buch ist zu erfahren, welche „anderen“ Leute ab 1945 im Osten in die Justiz kamen. Nach 1990 sprach einer der Beteiligten an den Willkürprozessen gegen Erich Honecker und DDR-Repräsentanten abschätzig von „nachgemachten Richtern“. Kanzler Konrad Adenauer und seinesgleichen glaubten, auf „ihre“ Leute nicht verzichten zu können. Also blieben Richter am Volksgerichtshof, Massenmörder und z. B. der den Völkermord an den Juden juristisch vorbereitende Hans Globke nicht nur unbehelligt, sondern wurden in höchste Ämter des Bonner Staates befördert. Wer in diesem Band den Abschnitt von Raoul Gefroi zu Globkes Mitwirken am Ermächtigungsgesetz für Hitler, an den Nürnberger Rassegesetzen und an der Germanisierung besetzter Staaten gelesen hat, dürfte letzte Illusionen über den „Rechtsstaat“ BRD verlieren. Selbstverständlich wurde nie ein Staatsanwalt wegen unterlassener Strafverfolgung in diesem oder in anderen Fällen angeklagt. Auf Anfragen aus der DDR wurde zumeist nicht reagiert – eine rühmliche Ausnahme war der einstige hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer. Um so wichtiger war den „Siegern“ die Rache nach 1990. Wer nie einen Volksgerichtshofhenker verurteilte, der mußte einfach DDR-Richter und -Staatsanwälte als „furchtbare Juristen“ betiteln, mit Ermittlungsverfahren (etwa 1000) überziehen und sie verurteilen (mehr als 160). Unrecht einer Klassenjustiz. An die Grundideen einer demokratischen Justiz wie in der DDR läßt sich anknüpfen, das andere gehört seit über 70 Jahren in den Orkus.
Hans Bauer / Gudrun Benser:
Staatsanwalt ohne Robe
DDR-Staatsanwälte im sozialistischen Rechtsstaat
Verlag Wiljo Heinen, Berlin 2017, 348 Seiten
ISBN 978-3-95514-030-4
18,00 Euro
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