RotFuchs 205 – Februar 2015

Über Begegnungen mit einem durch Glanz und Gloria
nicht zu Verbiegenden

Die Lauterkeit in Person: Heinz Keßler

Klaus Steiniger

Über einen zum Armeegeneral Aufgestiegenen, doch immer der einstige Arbeiter„junge“ Gebliebenen soll im folgenden berichtet werden. Heinz Keßler begegnete ich zum ersten Mal im Sommer 1947. Gut zwei Jahre zuvor war er mit der legendären „Gruppe Ulbricht“ auf deutschem Boden gelandet. Jetzt baute er in der arg zerstörten Spreemetropole einen von den drei westlichen Kommandanten vorerst nur unter der Bezeichnung „Freie Deutsche Jugend von Berlin“ zugelassenen Verband junger Antifaschisten auf.

Damals gehörte ich zu der Handvoll FDJ-ler im Westberliner Stadtbezirk Steglitz. Meine Mitgliedskarte aus jenen Tagen trägt die Unterschrift Heinz Keßlers. An einem Juliabend lud er in das benachbarte Zehlendorf ein, wo er in einer Gaststätte unweit des S-Bahnhofs mit uns ebenso unerfahrenen wie tatendurstigen jungen Leuten diskutieren wollte. Diese Begegnung, die nun schon fast 68 Jahre zurückliegt, wurde für mich zur „Ouvertüre“ eigenen politischen Erwachsenwerdens.

Im Frühjahr 1948 suchte ich den Stadtvorsitzenden der inzwischen durch alle vier Besatzungsmächte als Teil der Gesamtorganisation anerkannten Berliner FDJ in der Hosemannstraße auf, wo der Jugendverband seine Zelte aufgeschlagen hatte. Für meinen Gesprächswunsch gab es, wie mir damals scheinen wollte, „gewichtige Gründe“. Zu jener Zeit war ich, wie mein Vater, dem die Nazis nach dem schon 1933 erfolgten Ausschluß aus der Anwaltskammer 1935 auch die deutsche Staatsangehörigkeit entzogen hatten, Bürger der ČSR. Unter deren nur sehr kurzfristigen Schutz hatte er sich – mit Gültigkeit auch für mich – begeben. Im April 1948 – erst zwei Monate zuvor war in Prag die volksdemokratische Macht durch aufmarschierte Arbeitermilizen stabilsiert worden – folgten wir der Einladung des ZK der KP der Tschechoslowakei zu einem Erholungsaufenthalt in die Hohe Tatra. Gerade einmal 15, bat ich Heinz im Überschwang der Jugend um „konkrete Aufträge zur Vertiefung freundschaftlicher Beziehungen zwischen der FDJ und dem Bruderverband ČSM“. Er, der als in die Nazi-Wehrmacht gepreßter Antifaschist unverzüglich zur Roten Armee übergelaufen und später Frontbeauftragter des Nationalkomitees Freies Deutschland gewesen war, hatte enorme Geduld mit dem zur Aktion drängenden Heißsporn, der ihm da gegenübersaß. Freundschaftlich gab er mir „Ratschläge“, was ich in der ČSR „Wichtiges erledigen“ könne.

Jahrzehnte vergingen, in denen Heinz Keßler unter Führung so erfahrener kommunistischer Militärs wie des Spanienkämpfers Heinz Hoffmann zunächst für den Bereich Luftstreitkräfte/Luftverteidigung der Nationalen Volksarmee Verantwortung trug, später deren Politische Hauptverwaltung leitete und schließlich im Rang eines Armeegenerals selbst die Aufgaben des DDR-Verteidigungsministers versah. Diese Zeit, in der wir einander nie begegnet sind, muß ich hier ausblenden.

1990 trafen wir unter äußerst dramatischen Umständen erneut zusammen: Ort der Handlung war nun der alte Gefängniskomplex in Berlin-Moabit. Dorthin hatten den durch die Justiz des Hitlerstaates in Abwesenheit zum Tode verurteilten Antifaschisten jene verschleppt, deren Bundeswehr, Polizei und Geheimdienste einst von schwerbelasteten Nazi-Generalen aufgebaut worden waren. In einer winzigen Besucherzelle des alten Backsteinbaus führten wir ein überwachtes, kurzes Gespräch, dem bald längere Unterhaltungen in zwei weiteren Haftanstalten folgen sollten. Dort konnten wir auch Generaloberst a.D. Fritz Streletz kurz die Hand schütteln.

Bereits damals umgaben Heinz Keßler fürsorgliche Berliner Genossen wie Hans-Günter Szalkiewicz und Bruni Büdler. Als er dann zunächst Freigänger und schließlich aus der Haft entlassen wurde, durften wir ihn und Ruth, die ich schon aus ihrer Tätigkeit als Abteilungsleiterin in der Generaldirektion des DDR-Reisebüros kannte und schätzte, auch des öfteren im Zweifamilienhaus an der Köpenicker Allee besuchen. Als wir am Jahresende 2007 gute Freunde anläßlich meines 75. Geburtstages zu uns einluden, waren die Keßlers dabei.

Nachdem Heinz den Entschluß gefaßt hatte, Mitglied der DKP zu werden, ergab es sich aus unserer Wohnnähe, daß wir derselben Parteigruppe angehören. Mein letztes längeres Gespräch mit dem am 26. Januar nun 95 Gewordenen liegt um ein knappes Jahr zurück. Als das „RotFuchs“-Urgestein Sonja Brendel – sie versah bis ins hohe Alter die Aufgaben der stellvertretenden Vertriebsleiterin unserer Zeitschrift – im Tierparkhotel mit einem Kreis Nahestehender ihren 85. Geburtstag beging, wurde mir der Platz neben Heinz Keßler zugewiesen. Nach dem schmerzlichen Verlust seiner Ruth und angesichts der Tatsache, daß er durch fortschreitende Einschränkung seines Sehvermögens die Presse nicht mehr regelmäßig verfolgen konnte, ging ich davon aus, daß der in einem Pflegeheim vom Personal fürsorglich Betreute den Anschluß an das aktuelle Geschehen weitgehend verloren haben müßte.

Doch ich hatte mich gründlich getäuscht: Heinz war wie immer sehr konzentriert und in allen wichtigen Fragen auf dem Laufenden. Vor allem aber hatte er die ihn auszeichnende Bodenhaftung behalten und erwies sich – trotz Glanz und Gloria, die ihm in seinem langen Leben außer Schwerem zuteil geworden waren –, auch diesmal als jener selbstbewußt-bescheidene Mensch, der mir schon im Sommer 1947 so sehr imponiert hatte.