Wissenschaftliche Weltanschauung
Die Lehre vom Klassenkampf (Teil 1)
Seit Mitte der 60er-Jahre hat der damalige „Deutschlandsender“ (später umbenannt in „Stimme der DDR“) eine auch in Westdeutschland gehörte und beachtete Sendereihe mit Vorträgen zu Fragen unserer wissenschaftlichen Weltanschauung ausgestrahlt, deren Manuskripte sich erhalten haben und die wir den Lesern des „RotFuchs“ in einer Auswahl zur Verfügung stellen – inhaltlich wurde nichts verändert, von unumgänglichen Kürzungen abgesehen. Man kann diese Vorträge lesen als Kapitel eines Geschichtsbuchs (dazu auch immer die Angabe des seinerzeitigen Sendetermins) und zugleich als Einführung in die Grundlagen marxistisch-leninistischen Denkens. Viele auch in den Vorträgen zum Ausdruck kommende Hoffnungen haben sich mit und nach der Konterrevolution von 1989/90 zerschlagen, manche Prognosen haben den Praxistest nicht bestanden. Wesentliche Erkenntnisse von Marx, Engels, Lenin und anderen unserer Theoretiker aber haben nach wie vor Bestand, an ihnen halten wir (gelegentlich deswegen als Ewiggestrige beschimpft) fest, sie wollen wir – auch mit dieser Serie – vermitteln.
Sendetermin: 16. Februar 1972
In der Gegenwart – wie auch in der Geschichte – finden wir eine Vielfalt von Ereignissen, Erscheinungen und Widersprüchen der gesellschaftlichen Entwicklung, die auf den ersten Blick verwirrend und undurchschaubar erscheint: Denken wir nur – was die Geschichte anbelangt – an das Entstehen und den Verfall ganzer Gesellschaften, an Kriege und Friedensschlüsse, Revolutionen und Konterrevolutionen. In unserer Gegenwart sehen wir sowohl gesellschaftlichen Fortschritt als auch finsterste Reaktion. Wo ist der Kompaß zu suchen, der hilft, uns in dieser Vielfalt und Widersprüchlichkeit zurechtzufinden?
In einer immer wieder lesenswerten knappen Arbeit von W. I. Lenin mit dem Titel „Karl Marx“ wird die Antwort auf diese Frage in einem Satz zusammengefaßt. Er heißt: „Der Marxismus gab uns den Leitfaden, der in diesem scheinbaren Labyrinth und Chaos eine Gesetzmäßigkeit zu entdecken erlaubt: die Theorie des Klassenkampfes.“1
Mit der Lehre vom Klassenkampf deckten Marx, Engels und Lenin jene entscheidende Gesetzmäßigkeit auf, die besagt, daß die gesellschaftliche Entwicklung in allen Gesellschaftsordnungen, die durch unversöhnbare Klassengegensätze gekennzeichnet sind, durch den Klassenkampf vorangetrieben wird. Das ist nun nicht etwa eine „Erfindung“ der Klassiker des Marxismus-Leninismus, eine böswillige Verleumdung durch die Kommunisten, wie bürgerliche Ideologen immer wieder behaupten, sondern der Kampf der Klassen hat seine Ursachen in der gegensätzlichen Lage und den unterschiedlichen Interessen der verschiedenen Klassen, die letztlich durch die jeweiligen ökonomischen Verhältnisse bedingt sind. Im „Manifest der Kommunistischen Partei“ schrieben Marx und Engels: „Freier und Sklave, Patrizier und Plebejer, Baron und Leibeigener, Zunftbürger und Gesell, kurz, Unterdrücker und Unterdrückte standen in stetem Gegensatz zueinander, führten einen ununterbrochenen, bald versteckten, bald offenen Kampf, einen Kampf, der jedesmal mit einer revolutionären Umgestaltung der ganzen Gesellschaft endete oder mit dem gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen.“2
Wenn heute bürgerliche Historiker, Soziologen und Philosophen versuchen, den scharfen Klassenkampf im staatsmonopolistischen Kapitalismus zu leugnen, wenn immer wieder neue, oft aber auch längst überholte alte Theorien zurechtgezimmert werden, die nachweisen sollen, daß der gegenwärtige Kapitalismus den Klassenkampf überwunden habe – dann dienen alle diese Anstrengungen nur einem Ziel: die tiefe Widersprüchlichkeit innerhalb des eigenen Gesellschaftsgefüges zu verschleiern und den revolutionären Teil der Arbeiterklasse vom Kampf um grundlegende Veränderungen abzuhalten.
Dabei vergessen diese bürgerlichen Theoretiker nur zu gerne, daß es nicht Marx und Engels waren, die die Existenz und den Kampf der Klassen entdeckten, sondern bürgerliche Historiker und Ökonomen aus der Zeit des sich entwickelnden Kapitalismus. In einem Brief an seinen Kampfgefährten Joseph Weydemeyer schrieb Marx: „Was mich nun betrifft, so gebührt mir nicht das Verdienst, … die Existenz der Klassen in der modernen Gesellschaft und ihren Kampf unter sich entdeckt zu haben. Bürgerliche Geschichtsschreiber hatten längst vor mir die historische Entwicklung dieses Kampfes der Klassen, und bürgerliche Ökonomen die ökonomische Anatomie derselben dargestellt. Was ich neu tat, war 1. nachzuweisen, daß die Existenz der Klassen bloß an bestimmte historische Entwicklungsphasen der Produktion gebunden ist; 2. daß der Klassenkampf notwendig zur Diktatur des Proletariats führt; 3. daß diese Diktatur selbst nur den Übergang zur Aufhebung aller Klassen und zu einer klassenlosen Gesellschaft bildet.“3 In diesen wenigen Sätzen charakterisiert Marx mit innerer Logik seine historisch-materialistische Position zum Klassenkampf in der Geschichte und der sich daraus mit Notwendigkeit ergebenden welthistorischen Mission der Arbeiterklasse. Hierin ist einmal die Erkenntnis enthalten, daß der Klassenkampf eine objektive Gesetzmäßigkeit aller jener Gesellschaftsordnungen ist, die auf dem Privateigentum an Produktionsmitteln und der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen beruhen. Zum anderen wird damit deutlich hervorgehoben, daß der Klassenkampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie im Kapitalismus – als der historisch letzten Ausbeuterordnung – eine neue Qualität erreicht. Die Arbeiterklasse hat in diesem Kampf nicht nur die Aufgabe, die Bourgeoisie zu stürzen und die Diktatur des Proletariats, die Herrschaft der Mehrheit im Interesse der Mehrheit, zu errichten. Im Prozeß der Gestaltung der neuen Gesellschaft besteht das Ziel in der Aufhebung aller Klassen und der Schaffung der klassenlosen kommunistischen Gesellschaft. Zugleich mit diesen Erkenntnissen ist die Einsicht in den internationalen Charakter des Klassenkampfes zwischen Arbeiterklasse und Bourgeoisie verbunden. Auf der Grundlage der gemeinsamen Klasseninteressen vereinigt sich die Arbeiterklasse aller Länder in ihrem internationalen Kampf gegen den gemeinsamen Klassengegner, für das gemeinsame Ziel.
Gerade diese marxistisch-leninistische Auffassung vom Klassenkampf wird von der Monopolbourgeoisie und ihren Ideologen bekämpft, verfälscht und verleumdet, weil sie die historische Gesetzmäßigkeit des Sieges der Arbeiterklasse, des Sieges des Sozialismus und die Perspektivlosigkeit der kapitalistischen Gesellschaftsordnung einschließt. Eine gegenwärtig stark in Mode gekommene angebliche Widerlegung der historischen Gesetzmäßigkeit des Klassenkampfes besteht darin, die Quelle aller Widersprüche in der biologischen Seite des Menschen, in seinen Trieben und Instinkten, zu suchen. So sind z. B. in den letzten Jahren im Westen Tausende Arbeiten bürgerlicher Theoretiker erschienen, in denen der Aggressionstrieb als angeblich „urmenschliches“ Phänomen zum Sündenbock für alle Widersprüche und Auseinandersetzungen in der kapitalistischen Gesellschaft erklärt wird. Daraus wird dann geschlußfolgert, daß die entscheidenden gesellschaftlichen Übel „wohl nur sekundär von der Gesellschaft herrühren, primär vom Menschen“4 und daß Bezeichnungen wie „der Kapitalist“, „der Proletarier“, „der Kommunist“ nichts anderes seien als „Übervereinfachungen“, „vordergründige Vorgänge der Selbsttäuschung“, bedingt durch „Triebspannungen“5.
Ähnliche Argumente finden wir bei Neo-Freudianern, bei Verhaltensforschern und anderen sogenannten Aggressionstheoretikern. An die Stelle des objektiv vorhandenen und unversöhnbaren Widerspruchs von Kapitalist und Arbeiter wird ein angeblicher „Triebstau des modernen Menschen“ gesetzt; der sich offensichtlich zuspitzende Klassenkampf erscheint als „Freisetzung menschlicher Aggression“, und die Unterdrückungsfunktion des imperialistischen Staates wird als „Schutz des Menschen vor sich selbst“, vor seinen „aggressiven Trieben“ oder als „Verfeinerung der Triebe“ dargestellt. Die gesellschaftliche Wirklichkeit beweist tagtäglich die Unsinnigkeit dieser und ähnlicher Behauptungen. Die Klassenkämpfe unserer Tage in ihren verschiedenen Erscheinungsformen – ob in Gestalt der umfassenden Auseinandersetzung zwischen Sozialismus und Imperialismus, ob als Streikkampf um soziale Ziele, ob als politischer Kampf gegen staatliche Unterdrückung oder faschistische Diktatur – diese Klassenkämpfe lassen sich so wenig auf biologisch bedingte Triebe zurückführen, wie man sie leugnen und von einer „Klassenharmonie“ sprechen kann. Es bewahrheitet sich vielmehr auch in der Gegenwart die wissenschaftliche Erkenntnis von Marx, Engels und Lenin, daß in der antagonistischen Klassengesellschaft „die wirkliche Triebkraft der Geschichte der revolutionäre Kampf der Klassen“ ist.6
Die marxistisch-leninistische Theorie des Klassenkampfes ist aber nicht nur ein Kompaß, um sich in den vielfältigen Formen und Erscheinungen der Klassenauseinandersetzung zurechtzufinden, sie gibt nicht schlechthin eine Erklärung der bestehenden Klassenbeziehungen. Vor allem bildet sie die Grundlage für die Strategie und Taktik des revolutionären Kampfes der Arbeiterklasse. Für die marxistisch-leninistischen Parteien besteht eine entscheidende Aufgabe darin, aus der wissenschaftlichen Analyse des Kräfteverhältnisses in der Welt, aus der konkreten Klassenstruktur und den Bedingungen des Klassenkampfes die Generallinie ihrer politischen Führung zu entwickeln. In diesem Sinne sprechen wir von der Strategie der Partei der Arbeiterklasse, die für eine bestimmte Etappe der gesellschaftlichen Entwicklung festgelegt wird.
Sie enthält die genaue Zielbestimmung des Kampfes, die richtige Bestimmung des Hauptfeindes, der Monopolbourgeoisie, sowie die richtige Bestimmung der Verbündeten der Arbeiterklasse. Auf der Grundlage dieser strategischen Linie wird dann – in der Regel für kürzere Abschnitte innerhalb einer Entwicklungsetappe – die jeweilige Taktik des Kampfes der Arbeiterklasse entwickelt. Die Strategie und Taktik der marxistisch-leninistischen Parteien ist also untrennbar mit der wissenschaftlichen Theorie des Klassenkampfes verbunden. Dagegen versuchen Antikommunisten der verschiedensten Schattierungen den Eindruck zu erwecken, als bestehe die Politik der kommunistischen und Arbeiterparteien in einer prinzipienlosen Taktiererei, die angeblich nur dem Ziel diene, den – wie es in ihrem Sprachgebrauch heißt – „Machtbereich des Kommunismus“ auszudehnen.
Die Vergangenheit und Gegenwart des bewußt geführten Kampfes der Arbeiterklasse beweisen jedoch die Unsinnigkeit solcher Behauptungen. Die Unterschiedlichkeit und Variabilität in der Taktik – notwendig durch die unterschiedlichen konkreten Bedingungen des Klassenkampfes – waren und sind niemals Selbstzweck, sondern dienten und dienen der Verwirklichung des strategischen Hauptziels der Arbeiterbewegung, nämlich die kapitalistische Ausbeuterordnung zu beseitigen, die sozialistische Gesellschaft zu gestalten, in der der Mensch zum ersten Mal wirklich zum Schöpfer seiner Verhältnisse wird und letztlich die klassenlose kommunistische Gesellschaft zu schaffen.
In der Gegenwart bestimmt der Kampf um die Erhaltung des Friedens die Strategie und Taktik aller kommunistischen und Arbeiterparteien. Dabei geht es eben nicht nur um den bloßen Wunsch, den Frieden zu bewahren, sondern um das Aufdecken der konkreten Möglichkeiten und Wege seiner Erhaltung und Festigung. Die im Januar 1972 vom Politischen Beratenden Ausschuß der Länder des Warschauer Vertrages in Prag angenommene „Deklaration über Frieden, Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“ zeigt das mit aller Deutlichkeit. Hier werden das reale Kräfteverhältnis, die positiven Entwicklungstendenzen im Ringen um die europäische Sicherheit eingeschätzt, die es ermöglichen, alle strittigen Fragen mit friedlichen politischen Mitteln zu lösen. Zugleich werden aber auch jene Kräfte charakterisiert, die daran interessiert sind, die Spannungen zu erhalten, die einen europäischen Staaten zu den anderen in Gegensatz zu bringen und Möglichkeiten zu behalten, die Entwicklung der Ereignisse auf dem europäischen Kontinent erneut in Richtung auf eine Verschärfung zu lenken. Und nicht zuletzt werden jene Grundprinzipien der europäischen Sicherheit und der staatlichen Beziehungen charakterisiert, auf deren Verwirklichung hingearbeitet werden muß.
Der Kampf um Frieden, Demokratie, sozialen Fortschritt und Sozialismus ist ohne exakte Analyse des Kräfteverhältnisses und der Bedingungen des Klassenkampfes, d. h. ohne ständige Anwendung der Theorie des Klassenkampfes, nicht möglich. Und gerade deshalb ist ihre Aneignung notwendig für das Verständnis der gesellschaftlichen Beziehungen wie für deren revolutionäre Veränderung.
Anmerkungen
- Lenin: Karl Marx. LW, Bd. 21, S. 46
- Marx/Engels: Manifest der Kommunistischen Partei. MEW, Bd. 4, S. 462
- Marx: Brief an Weydemeyer vom 5. 3. 1852. MEW, Bd. 28, S. 507 f.
- Alexander Mitscherlich, Die Idee des Friedens und die menschliche Aggressivität. Frankfurt/M. 1969, S. 125
- Ebenda, S. 14
- Lenin: Noch einmal über ein Dumakabinett. In: LW, Bd. 11, S. 57
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